Tool / 10.000 Days / 2006 / CD

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Einleitung
"Tool sind Gott, alles andere ist Blasphemie."
Eine von diesen vielen an sich unhaltbaren und überflüssigen Behauptungen, die man im Zuge des allgemeinen Prog- und speziellen Tool-Hypes doch das ein oder andere mal zu hören bekommt; eine Behauptung, die dreist, pubertär und peinlich ist; aber auch eine Behauptung, die sicher nicht ganz von ungefähr kommt.
Um mein übliches, schwachsinniges Gelaber hinten an zu ordnen und gleich zum Punkt zu kommen:
Tool haben wieder einmal eines ihrer Märchen geschaffen.
Nicht unbedingt ein Märchen für Jeden, der an den Weihnachtsmann, den lieben Gott und die makellose Demokratie in Russland glaubt; aber ein Märchen, das so perfekt erzählt, inszeniert und verkörpert nur von dieser Band stammen kann.

Der Sound
Inspiriert haben sich die Jungs in ihrer typisch langen, final wirkenden Pause (10.000 Tage sind auch in etwa die gefühlte Wartezeit zwischen zwei Tool Alben), haben sich viel an Bands wie Meshuggah oder Mastodon orientiert, selbst an Hardcore/Techno-Acts wie Aphex Twin und das Ergebnis ist ein Zeugnis dessen:
Die Platte fällt insgesamt durchgehend härter aus als das Meiste bisher Dagewesene, der Gesang schlägt eine direktere Note an, ohne jedoch experimentelle und bisweilen getragen-voluminös vermittelte Ansätze (Nebenprojekt A Perfect Circle lässt grüßen) vermissen zu lassen, also insgesamt fast wie eine Symbiose zwischen dem Vorgänger "Lateralus" und dem Erstling "Opiate".
Sie haben mit fast 76 Minuten eine wirklich randvolle Scheibe erstellt, für deren komplette Beschreibung sicher 10.000 Wörter nötig wären - vielleicht auch noch mehr, schließlich lässt sich subjektives Musikempfinden schlecht auf numerische Materie reduzieren - aber da dies den Rahmen des Machbaren überdehnen würde, beziehe ich mich bei meiner nun folgenden Analyse ausschließlich auf einige wenige ausgewählte Tracks und Passagen, um einen etwaigen, flüchtigen Blick auf die Oberfläche zu gewähren.

Das Artwork
Alleine für das Artwork würde sich schon der Kauf lohnen, wenn man Wert auf ein gepflegtes Drumherum legt, denn das sperrig-große CD-Case beherbergt eine Art Linsenklappe, die zwischen den Augen des Betrachters und dem Bildwerk selbst gelegt werden kann, um sich den sogenannten stereoskopischen Effekt zu Nutze machen und damit einige imposante 3D-Effekte bewundern zu können:
Alle Bilder des Booklets sind zweimal nebeneinander abgebildet, mit minimalen, den Parallaxen entsprechenden, perspektivischen Abweichungen; mit Kombination der Linsen werden eben so aus zwei zweidimensionalen Bildern ein dreidimensionales Bild; zur Betrachtung stehen verschiedene, teils mythologische oder fiktionale CGI/Farb- Motive und Ablichtungen der Bandmember in skurrilem Ambiente.

Das Album
Die Vorabsingle "Vicarious" ("Vicarious" bedeutet stellvertretend, vielleicht ganau deswegen ausgekoppelt...) gibt textlich gesehen bereits all der Gleichgültigkeit und Anteilnahmslosigkeit im Menschen einen Namen und erzählt die Geschichte, wie einer ganzen Welt aus der sicheren Distanz beim Sterben zugesehen wird.
Der Blick richtung Fernseher offenbart dem lyrischen Ich die benötigte Genugtuung, da es in seiner vojeuristisch geprägten Natur die alltäglich gewordene Tragödie begehrt, die Aussage "Don't look me at like I am a monster" soll unterstreichen, dass es sich hier nicht um ein singuläres Phänomen handelt, sondern etwas, was klaren Gewöhnungscharakter besitzt: MJK sagt Reality TV und "if it bleeds, it leads"-Billigjournalismus eindrucksvoll den Kampf an und überspitzt das Ganze noch durch ein unbekümmertes und gleichzeitig ungemein catchiges "La la la la la la la-lie".
Das Riffing selbst ist so Tool-typisch, dass man es definitiv noch näher schildern sollte, denn als hörer das Unerwartbare zu erwarten ist bei dieser Band sicherlich noch eine Untertreibung des Erwartungshorizontes:
Cleanen Bass - und Gitarren Instrumentallicks wird im Intro noch viel Raum gelassen, während sie im Chorus dann förmlich explodieren; das Drumming von Symbolfetischist Danney Carey ist enorm komplex, schwer greifbar und dennoch technisch genial; fernerhin gibt es einen ziemlich vertrackten Taktsprung zwischen Dreier- und Fünfergruppe bei 3:26 Minuten, die einen Meshuggah artigen Unisonolauf einleitet; raffiniert, aber alles andere als eingängig, so wie eigentlich der meiste Rest des Albums auch.
Verflüchtigen tut sich der ganze Zauber dann effektvoll in einem triolischen Hochgeschwindigkeitsfinale.
"Jambi" macht genau da weiter: Furztrockener, fast thrashiger Gitarrensound, delayhaltige bassfills und ein vergleichbares Carey-geprüftes Knüppelfinale; das fasst es etwa in einem Satz zusammen.
Der Track mit Hitpotential schlechthin ist jedoch, trotz gesalzener Länge von sechseinhalb Minuten, eindeutig "The Pot"; der Gesang wird insgesamt melodisch und eingängig von einem fast funkigen Basslauf begleitet, ohne jedoch die Unberechenbarkeit der Musik vermissen zu lassen.
Vordergründig geht es, wie der Name bereits verrät, ums Kiffen; was noch dahinter steckt, eine Begründung, wieso Maynard die Angesprochenen als "fucking Hypocrites" beschimpft, sollte jeder selbst suchen.
"Rosetta Stoned" muss wohl bei einer Exkursion ins British Museum entstanden sein, denn genau wie der mysteriöse Stein als Verbindung und Übersetzer verschiedener antiker Sprachen herhält, so ist der Song Mittler zwischen verschiedenen Klang- und Bewusstseinsebenen:
Befremdliche, munter drauflosblubbernde Gesprächsfetzen werden wie Gebetswirrwar eingeworfen, kombiniert mit einem allmählich ansteigenden Spannungsbogen, aber auch immer wieder melodische Einwürfe; so wie ich die kranken Tool-Hirne einschätze, hat auch die Länge von genau 11 Minuten und 11 Sekunden eine hintergründige Bedeutung.
Einige Takte und Zählzeiten kann ich nur noch blind schätzen, denn sie bilden ein ebensolches Rätsel wie besagter Stein; wenn jemand die Effekte kennt, die Gitarrist Adam Jones in diesem Song verwendet, bitte melden, denn sie haben neben Adams Zauberhändchen einige der bis dato befremdlichsten und exotischten Gitarrensounds hervorgebracht.

Fazit
Auch nach fast 15 jahren haben es die Techniker, die das Visions-Magazin einst die "Opposition zum Garagensound" taufte, immer noch nicht verlernt, wie man im Gleichschritt durch ein sehr tückisches Minenfeld marschiert, durchkommt und eine bild-, wort- und soundgewaltige Performance sondergleichen ablegt, an der sich kommende Generationen von Musikacts unterschiedlichster Coleur messen können.
Ist das perfekte Album in dieser abstrakten Form jedoch überhaupt zu realisieren frage ich mich, eine fast moralische Frage?
Wer sagt mir, dass das nächste Album nicht noch besser wird und damit einer Note über der Referenzwertung von 10 Punkten zuwider handeln würde?
Niemand tut es, und insofern würde ich mich hüten, zu behaupten, dies sei das Beste, was Tool-mäßig möglich sei.
Nichtsdestotrotz, das Album benötigt jedoch seine Zeit; Sänger MJK ist nebenbei als Winzer tätig und weiß, dass guter Wein lange lagern muss, um wirklich erlesen zu werden und genauso muss man dem Tool Album ein wenig Wartezeit gönnen, bis es sich dem menschlichen Ohr vollends erschließt.
Was damals gilt, gilt heute nach wie vor noch und auch nach längerer Überlegung kann ich nur unmündig beipflichten:
Tool sind halt Gott, alles andere wäre bloß Blasphemie.

Tracklist
1. Vicarious
2. Jambi
3. Wings For Marie (Pt 1)
4. 10,000 Days (Wings Pt 2)
5. The Pot
6. Lipan Conjuring
7. Lost Keys (Blame Hofmann)
8. Rosetta Stoned
9. Intension
10. Right In Two
11. Viginti Tres

Gesamtspielzeit: 75:50 min

Anspieltipps: eigentlich jedes verdammte Lied

Insgesamt: 9,5/10,0
 
Eigenschaft
 
du hast ja wirklich einen toll stil drauf, respekt! sehr wortgewandtes und kompetentes review. die tatsache, dass du trotz des berechtigten anfänglichen tretens auf die euphorie-bremse doch noch dem allgemeinen tool-wahn verfallen bist und der betont bedeutungsschwangeren attitüde von herrn keenan nicht in dem maße entgegen getreten bist, wie ich es mir in einem progressive rock-forum vielleicht wünschen würde (ich zitiere die bbs: "Da es aber wesentlich einfacher ist, neue Dinge zu sagen, als sie zu tun, sind es auch bei Tool nur Gitarrensaiten, die schwingen und Verstärker, die dröhnen, egal wie die Sache nun heißt."), finde ich mal nicht weiter schlimm.
davon abgesehen, dass es nun nicht so meine musik ist (was an dieser stelle aber auch nichts zur sache tut), ist das ein wirklich gutes review, das auch durchaus eine ganze ecke aufschlussreicher ist als die rezension von den bbs.
 
Houellebecq! schrieb:
die tatsache, dass du trotz des berechtigten anfänglichen tretens auf die euphorie-bremse doch noch dem allgemeinen tool-wahn verfallen bist und der betont bedeutungsschwangeren attitüde von herrn keenan nicht in dem maße entgegen getreten bist, wie ich es mir in einem progressive rock-forum vielleicht wünschen würde

Das blinde Sich-Ergeben der Euphorie war eigentlich eher hochstilisierte Absicht von mir, schließlich steckt hinter Tool, trotz des zeitweise nervigen Hypes (hab in dem Release Monat nicht ein einziges Hard 'n' Heavy Magazin ohne Tool auf dem Cover gesehen), eine Klasse für sich; insofern steckt in einiger Euphorie manchmal auch ein Fünkchen Wahrheit.

Btw, Michel Houellebecq ist ein ganz Großer ;-)
 
Sehr gutes Review!!!:great:

Zur Platte:

Ich finde sie echt gut. nur finde ich das manche Lieder einfach ein wenig in die länge geszogen wirken, da jedes Thema noch und noachmal wiederholt werden muss, was mir vorallem bei 10.000 Days aufgefallen ist. Aber sonst isses eine sehr gute Platte.
8/10 Punkten.
 
Sehr gute Review!!!:great: Toller Stil und sehr ins Detail gegangen. Die Platte ist auch super und in 3 Wochen werd ich es live erleben.
 
Leider ist mein Englisch nicht sooo gut, dass ich die Lieder immer 100% interpretieren kann, und das muss man, wenn man Tool hört.
 
lucas_star schrieb:
Leider ist mein Englisch nicht sooo gut, dass ich die Lieder immer 100% interpretieren kann, und das muss man, wenn man Tool hört.

Definitiv nicht. Man kann auch Musik hören ohne sich gleich den Kopf darüber zu zerbrechen.

Zum Review: Sehr gut. Hab' schon darauf gewartet und wollte wissen wer sich da nun rantraut. ;) Ich hätte allein für die Platte 7/10 - 8/10 gegeben. Für das Artwork/Booklet dann nochmal hätts dann noch n Pluspunkt gegeben, denn sowas gibts nicht oft. :D
 
Sehr gutes Review.Ich wollte letztens noch fragen ob jemand eins schreiben möchte :D
Nur 1-2 Sachen: Du sagst im Review , dass du das Album sehr (mir fällt das richtige Wort nicht ein) "hart" findest. Ich denke allerdings ein bisschen anders , die Hälfte des Albums ist auch sehr ruhig ( Part 1 , 2 , Lipan Conjuring , Intension , teilweise Right in two und Viginti tres :D )
Außerdem hast du Right in two nicht erwähnt :twisted: , ist einer meiner Lieblingssongs

Das waren jetzt aber nur 2 kleine Kritikpunkte.Sonst Respekt , auch dafür , dass du dich getraut hast dieses Album zu reviewen :great:
 
Mr. Suey schrieb:
Sehr gutes Review.Ich wollte letztens noch fragen ob jemand eins schreiben möchte :D
Nur 1-2 Sachen: Du sagst im Review , dass du das Album sehr (mir fällt das richtige Wort nicht ein) "hart" findest. Ich denke allerdings ein bisschen anders , die Hälfte des Albums ist auch sehr ruhig ( Part 1 , 2 , Lipan Conjuring , Intension , teilweise Right in two und Viginti tres :D )
Außerdem hast du Right in two nicht erwähnt :twisted: , ist einer meiner Lieblingssongs

"hart" habe ich so nicht geschrieben, zumal ein absoluter Härtebegriff natürlich schwierig ist; im Vergleich mit den alten Tool-Veröffentlichungen ("bisher Dagewesene"), insbesondere mit der jüngeren "Lateralus", fällt die Platte aber relativ härter aus, was dann eben wieder eher wieder an die frühe "Opiate" erinnert.
Die Lieder die du genannt hast, machen die ruhigere Hälfte aus, der Vicarious, Jambi, The Pot, Rosetta Stoned und Teile von Right In Two als Gegenbeispiele entgegenzuhalten sind.

Right In Two hätte ich auch noch erwähnen sollen, stimmt, man kann einem 76 Minuten Album auch fast unendlich viel Platz beimessen, aber irgendwann muss man auch Schluss machen. :p

Trotzdem Danke für die konstruktive Kritik.
 
Nun gut die alten Tool Alben hab ich eh (noch) nicht (bitte nicht schlagen :D) deswegen kann ich das eh nicht bewerten mit der Härte ;)
 
zur haerte: opiate ist nicht wirklich mit der hier vergleichbar? mir kommt das album eher ruhig vor und opiate ist roh und laut und achja
 
<*(((>< schrieb:
zur haerte: opiate ist nicht wirklich mit der hier vergleichbar? mir kommt das album eher ruhig vor und opiate ist roh und laut und achja
und ich dachte ich bin der einzige der Opiate und Undertow nicht mit Ænima, Salival, Lateralus, 10,000 Days vergleichen kann ;) (schon allein wegen den Bassamp :D )
 
Review gefällt mir auch, auch wenn die Bewertung nicht ganz meiner entspricht. Aber trotzdem, gelungener Schreibstil! :great:
 
Tool's 10.000 Days ist nicht schlecht, doch klingt es für mich teilweise zu lateralisch (Anlehnugn an das vorherige Album).
 
The Hollow, ehrlich? Hm kannst du das genauer erklären? Beispiele geben oder so?


mfg Flower King, der sich ein Lateralus mit dem Sound vom 10.000 Days wünschen würd :D
 
gelungenes review !

Ich würd dem Album 9/10 geben. :)
 
super Review, super an die Sache rangegangen...

Zum Album: m.E. das bisher beste TOOL-Album, weil ich die Songs insgesamt ausgereifter finde als zB auf AEnema.
Auserdem hört sich die Platte wesentlich besser, fühlt sich kompletter, in sich schlüßiger an, wenn ihr versteht was ich mein...und zusammen mit dem Artwork einfach ein "Meisterstück", wobei ich mit dem Wort eher vorsichtig zu Werke gehe...
Was mir zB ab und an passiert: Wenn ich die Platte angefangen hab, will ich sie auch komplett zu Ende hören, unterbrechen is jedesmal Mist und was andres hören geht dann mal gar net....
Einziger Negativpunkt: Es hört sich recht ähnlich an, was mich aber kein bisschen stört; das ist wohl der Preis für das eine"Meisterstück"und für des Feelin', sich mit jedem Song weiterzuentwickeln...Progressiv halt =)
Insgesamt: 9/10 Punkten, bin mal gespannt was noch so kommt aus der kalifornischen Soundschmiede der Tools ...
 
Sehr gelungene Preview.
10.000 Days ist auf jeden Fall ein Album, das wächst, und dass man als langjähriger Toolfan nicht ohne weitere Beschäftigung außer The Pot und Vicarioius als Enttäuschung ablegen sollte.
Genau betrachtet vielleicht sogar ihr kompaktestes Album, auf der einen Seite ungewohnt eingängig, auf der anderen in seiner Intensität immer noch Maßstäbe setzend. Vicarioius und Jambi setzten einen radikalen Einstieg, welcher von Wings for Marie Pt. 1 und Pt.2 danach in Gänsehaut gebrochen wird und mit The Pot fast schon tanzcharakter hat. Dann eine kurze Pause, bis es mit dem epischen Rosetta Stoned über Intension zu einem meiner absoluten Highlights, Right in Two schreitet, ein dermaßen großes....Unbeschreiblich.
In die Rangliste würde ich es an 3. Stelle einordnen, nach dem unerreichten Aenima und Lateralus.
 

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