Meiner Meinung nach gibt es Eigenschaften und Regel-Sätze, die, ähnlich wie in der Physik, unabhängig vom historischen Kontext gelten.
Das ist eine steile These.
Regeln in der Musik unterscheiden sich von Naturgesetzen genau so wie sich Naturgesetze von Regeln des menschlichen Miteinander unterscheiden. Das zeigt schon der sprachliche Unterschied: Bei Naturwissenschaften sowie der Mathematik spricht man von Gesetzen. Bei allem, was sich auf Gesellschaftswissenschaften (Geschichte, Soziologie, Psychologie, Architektur etc.) bezieht, spricht man von Regeln. Gerade weil letztere im Vergleich zu ersteren nicht immer in gleicher Weise gelten. Was damit zusammenhängt, dass Menschen selbst eingreifen in ihr Geschehen und dieses sich dadurch ändert. Die Schwerkraft ändert sich hingegen nicht, sondern ist eine Konstante.
Es gibt Regeln in der Musik und musikalischen Kompositionen, aber diese lassen sich nur auf bestimmte musikalische Epochen, Stile oder Genres beziehen. Und sie entsprechen eher Konventionen - also dem, was "üblich" ist für eine bestimmte Epoche, einen bestimmten Stil oder ein Genre. Beispielsweise fußt europäische Musik im Wesentlichen auf Ganz- und Halbtönen, während in Asien auch mit Vierteltönen Musik gemacht wird. Dur und Moll sind strukturgebend für bestimmte Musiken - bei anderen spielen sie keine oder eine untergeordnete Rolle.
Ich gehe deshalb so ausführlich darauf ein, weil das bedeutet, wenn Du von der Annahme ausgehst, dass Du nur die Regeln von Musik zu extrahieren brauchst, um Musik zu programmieren, in gleicher Weise, wie Du nur die Gesetze der Chemi zu kennen brauchst, um zu programmieren, welche Stoffe man mit welchen in welchem Verhältnis man mischen muss, um beispielsweise Sauerstoff herzustellen, dann ist schon Deine Grundannahme falsch - und damit alles, was auf ihr beruht.
Ein Vergleich kann hier durchaus die Architektur sein, die Dir zumindest einigermaßen vertraut sein dürfte, da Du schon einige Male das Bauhaus erwähnt hast. Die Architektur umfaßt
sowohl die Beachtung von Naturgesetzen wie die Kenntnis von Schwerkraft und davon abgeleitet die Statik, das Wissen um die physikalischen und chemischen Eigenschaften von Baustoffen und weiteres mehr
als auch menschliche Regeln wie sie bestimmte Baustile beschreiben, die auch historisch geprägt sind. So ähnlich steht es mit der Musik: die physikalische Seite wären die Erzeugung von Tönen, Klängen und Schwingungsverhältnisse sowie Schall und ähnliches. Aber diese naturwissenschaftliche Seite der Musik reicht nicht aus, um Musik zu beschreiben oder Musik zu erzeugen. Die Komposition von Musik ist unter anderem an bestimmte Stile, Epochen und Genres gebunden und prägt Hörgewohnheiten, die wiederum Einfluss auf die Wahrnehmung von und die Erwartung an Musik haben. Kurzum: Mit der rein naturwissenschaftlichen Seite (und den Gesetzen) kommst Du hier nicht weiter - und was darüber hinaus vorliegt, entspricht eher Regeln und Konventionen, die sehr komplex, eher unscharf und sehr kontextbezogen sind. So ähnlich wie die menschlichen Sprachen.
Was Einzeltöne und Intervalle betrifft, hast du recht. Aber wie in einer Zwölftonreihe Akkorde entstehen können – und dann auch noch in Dur und Moll – ist mir momentan unklar. Ich dachte immer, dass gerade solche harmonischen Strukturen in der Zwölftonmusik überwunden werden sollten.
Den Anspruch haben zumindest führende Köpfe der 12-Tonmusik erhoben. Aber aus das entspricht eher einer bestimmten historischen Konstellation. Von der Struktur her gesehen, spielt das keine Rolle. Von der Struktur her geht es um die chromatische Tonleiter, die 12 Töne umfaßt (die sich in die gleichen Ganz- und Halbtöne unterteilen wie die gesamte europäische klassische Musik). Das heißt, wenn Du beispielsweise die 12-Tonfolge F E G H D Fis A Gis Dis His Ais C hast bzw. entwickelst, hast Du einen aus einer chromatischen Tonleiter gebildete Tonfolge, welche allerdings drei Tonfolgen enthält, die wenn sie zugleich gespielt werden, Akkorde sind: E G H ist E Moll; D Fis A Gis ist D-Dur, His Ais entspricht dem Gis Dur Akkord. Und das heißt wiederum, dass Du durch die Reihenfolge der Töne einer chromatischen Tonleiter dann Akkorde bilden kannst, wenn Du diese Tonfolge so festlegst, dass die Einzeltöne der Akkorde direkt aufeinander folgen und wenn Du dann die Anordnung gibst, dass Du diese Töne zusammen erklingen läßt.
Neben den 3-Ton-Akkorden kann man in ähnlicher Weise wie Power-Chords (Grundton und Quinte wie etwa E und H - das heißt, dass bei einem Powerchord das Tongeschlecht (Dur oder Moll) nicht definiert ist) oder Akkorde mit 4 oder mehr Tönen bilden.
Und damit lernst Du auf diesen Wegen die Regeln der Akkordbildung.
Du hast Recht, wenn Du sagst, dass die 12-Tonmusik, so wie sie historisch entstanden ist, die klassische europäische Harmonik überwinden und letztlich verdrängen sollte. In gleicher Weise ist es aber so, dass sie strukturell - also von ihren Regeln her - Raum läßt für zumindest klassische Akkorde (wenn auch nicht wirklich klassischer Harmonik).
So weit erst mal ...
x-Riff