Kirchentonleitern: Frage für wirklich tief Denkende

Natürlich kann man die Eingangsfrage konkret und kurz verständlich beantworten.
Ich versuche es auch einmal - nach über einem Jahr, der Thread ist ja noch aktuell.

Es hat tatsächlich mit der Entstehung von Tonleitern und auch Mehrstimmigkeit zu tun. Was man nicht machen kann ist von heute auszugehen. Also nicht: "Es gibt eine 12-chromatische Unterteilung der Oktave, Darin kann man 1,948 mathematisch mögliche Skalen (ab drei Tönen) bilden. Diese sind immer durch-permutierbar".

Stattdessen aufeinander aufbauend:

(1) Hexachord: Pythagoras hat einen Ausgangston immer wieder mit 3/2 multipliziert (1; 3/2; 9/4; 27/8; 81/16 etc.). So wie auch die Obertonreihe katapultiert dieser Vorgang die Töne durch die Oktaven immer weiter nach oben. Durch das zusätzliche Bruchverhältnis 1/2 können alle Töne in der gleichen Oktave gehalten werden (z.B. 9/8 statt 9/4). Dies führte zur Dur-Pentatonik und Hexachord "C D E F G A".

(2) Solmisation: Im Spatmittelalter und Renaissance wurde der Hexachord zu einer über zwei Oktaven verlaufende Tonleiter ergänzt:
"(F) G A Bb (C) D E F (G) A B C D E"
Mit Bb in der unteren Oktave und B (deutsch H) in der oberen Oktave. Dies führte zu drei überlappenden Hexachord Tonarten:
F G A Bb C D - C D E F G A - G A B C D E

(3) Musica Ficta: Es kam zuerst zu zusätzlichen Einzelregeln, etwa "b6" wenn direkt im Halbtonschritt zur Quinte zurückgeführt. Dann aber wurden durch Kontrapunktregeln Schlussklauseln (zweistimmige Schlusskadenzen mit dominantischer Wirkung) eingefürt. Dadurch wurden die acht Töne (C D E F G A Bb B) auf zwölf Töne aufgefüllt. Die zwölf chromatischen Töne stammen demnach nicht von einer bewussten Einteilung der Oktave in 12 gleichmäßige 100cent Schritte - dies hat vielmehr mit späteren Stimmungen (erst temperiert und dann physikalisch exakt) zu tun.

(4) Kirchentonleitern: Der italienisch Philosoph Boetius/Boecius hat (vor der Gregorianik) in frühkirchlichen Melodien festgesellt, dass diese mit den gleichen vier Anfangstönen der ionischen (und aeolischen) heptatonischen Tonleiter beginnen, dann aber je nach Ausgangston auf unterschiedliche Weisen/Modi durchexerziert werden können.

Das dürfte es sein.
Grüße
 
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Das ist mir zu tief ,lieber nehme ich meine Gitarre und spiele
 
Ein historischer Exkurs ist ja auch mal interessant. Über die Kirchentonleitern bzw. Modi im heutigen Sinne haben wir ja schon ausführlich diskutiert. Merken kann man sich vielleicht, dass auch die Diatonik vor langer Zeit mühsam erobert werden musste.
 
@RED-DC5, schau bitte 'mal auf den Titel des Themas.
Angesichts von bisher dreizehntausend Zugriffen und rund 180 Beiträgen gibt es offenbar genügend Leute, die es spannend finden, wenn sich eine ausdrücklich so benannte Diskussion auch tatsächlich vertiefend entwickelt.

Gruß Claus
 
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@Claus mir ging es ganz speziell um #181 ,der ist mir etwas zu wissenschaftlich geraten. Habe absolut nichts gegen Kirchentonleitern(Mods). Setze hinundwieder mal die Phrygische oder auch Phrygische Dominant ein
 
(2) Solmisation: Im Spatmittelalter und Renaissance wurde der Hexachord zu einer über zwei Oktaven verlaufende Tonleiter ergänzt:
"(F) G A Bb (C) D E F (G) A B C D E"
Mit Bb in der unteren Oktave und B (deutsch H) in der oberen Oktave. Dies führte zu drei überlappenden Hexachord Tonarten:
F G A Bb C D - C D E F G A - G A B C D E

Das ist doch interessant. Die drei Hexachord Tonarten besitzen alle eine Quarte, aber keine Septime, so dass ausschließlich harmonische Klänge ohne den Leitton auf den Grundstufen I, IV und V aufgebaut werden können. Auch heute noch sind viele Stücke aus dem anglo-amerikanischen Raum so aufgebaut, häufig hört man eine Quarte über der Subdominante und keine #IV, wie es die Durtonleiter eigentlich fordert. Im Grunde kann man auch den Blues als Beispiel mitzählen, durch die Blue Notes und die Gleittöne werden die problematischen Intervalle der heutigen gleichstufigen Tonleitern vermieden. Ähnlich wie bei den Terzen gibt es auch für die Septimen die Naturseptime als harmonische, reibungssfreie Alternative.
 
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Auch heute noch sind viele Stücke aus dem anglo-amerikanischen Raum so aufgebaut
Die Parallele sehe ich nicht.

Die Skalen
F G A Bb C D - C D E F G A - G A B C D E
enthalten ja gerade keine Septime, also auch keine kleine.

Dein "noch" impliziert auch eine Kontinuität zwischen Pythagoras und Blues, die es imo nicht gibt. Der Leitton und auch die Solmisarionssilbe si waren doch spätestens 1650 herum in Mitteleuropa etabliert.
 
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Dein "noch" impliziert auch eine Kontinuität zwischen Pythagoras und Blues,

So meinte ich das nicht. Ich sehe zwei verschiedene Prinzipien in der Musik am Werk, Harmonik und Melodik. Die Harmonik orintiert sich an den Obertönen einer schwingenden Saite, während die Melodik nach stabilen Tonleitern strebt, die sich auch bei einem Wechsel des Grundtons nicht ändern. Je nachdem, was in der jeweiligen Kultur höher bewertet wird, kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen.
 
So meinte ich das nicht. Ich sehe zwei verschiedene Prinzipien in der Musik am Werk, Harmonik und Melodik. Die Harmonik orintiert sich an den Obertönen einer schwingenden Saite, während die Melodik nach stabilen Tonleitern strebt, die sich auch bei einem Wechsel des Grundtons nicht ändern. Je nachdem, was in der jeweiligen Kultur höher bewertet wird, kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Ja, diese Medlodien, die nach stabilen Tonleitern streben!


View: https://www.youtube.com/watch?v=8UAudR5O8Hk

Es gibt da auch den Ryhthmus, bei dem ich immer mit muss.

Grüße
Omega Minus
 
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Ich sehe zwei verschiedene Prinzipien in der Musik am Werk, Harmonik und Melodik.
Bei mir sind es Rhythmus, Melodik und Harmonik. Man könnte auch noch die Klangfarbe (Instrumentation) hinzunehmen.

Trotzdem sehe ich den direkten Zusammenhang zwischen Hexachord und Bluestonleiter nicht.

Es gibt da auch den Ryhthmus, bei dem ich immer mit muss.

Den kenne ich auch!


View: https://youtu.be/qnGM0BlA95I?si=wWsWBSfGr016wEzg&t=60
 
Trotzdem sehe ich den direkten Zusammenhang zwischen Hexachord und Bluestonleiter nicht.

Beide sind von der Harmonik her inspiriert und verschieben die Tonleiter mit dem jeweiligen Grundton (Rückung). Die Blue Notes werden heutzutage meist als Reiztöne verwendet, ich vermute aber, dass das gar nicht die ursprüngliche Intention war. Man kann auf diese Weise auch die natürlichen Terzen und die Naturseptime spielen.
 
Trotzdem sehe ich den direkten Zusammenhang zwischen Hexachord und Bluestonleiter nicht.
Bei Hexachord denke ich an Guido von Arezzo im 11. Jahrhundert.
Die Bluestonleiter beruht eindeutig auf der Pentatonik, der Blues entstand bekanntlich erst im späten 19. Jahrhundert. Beim Erblühen in den 1920er Jahren war des Öfteren auch die "b5" zu hören, aber zuerst als Durchgangston und erst mit dem Bebop dann emanzipiert und absichtsvoll dissonant.

Die Pentatonik kann bei gleichem Tonmaterial je nach Grundton unterschiedlich verwendet werden.
Moll-Charakter in der Melodik als Pentatonik in A: A C D E G A
Dur-Charakter in der Melodik als Pentatonik in C: C D E G A C

Bluestonleiter "Standard": A C D Eb E G A
Bluestonleiter "Gospel-Scale": C D Eb E G A C
Die Gospel-Scale ist eine vielseitige Improvisationstonleiter, wenn dur-kadenzielle Akkordfolgen in der Melodik bluesig klingen dürfen.

Bei einem (einfachen) Bluesschema in C wäre die C Blues Scale über alle Akkorde (C7, F7, G7 ) eine naheliegende Wahl.
C Eb F (F#/Gb) G Bb C

Gruß Claus
 
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Bei @Claus lernt man immer noch was dazu (y)
 
Die Ehre gebührt hier eher den unbekannten Wikipedia-Authoren und Jonny May. 🙏
Aber auf jeden Fall können wir jetzt über "C – G – Am – F – C – G – F – C" improvisieren, bis der Arzt kommt. :w00t:

Gruß Claus
 
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Die Bluestonleiter beruht eindeutig auf der Pentatonik ...
Ist das irgendwie belegt ?

Weil meines Wissens, das weder aktuell noch vollständig sein muß, liegt der Ursprung der Bluesscale anderswo.

LG - Thomas
 
liegt der Ursprung der Bluesscale anderswo.
Ich habe bei Wikipedia nachgeschaut ...

"The first known published instance of this scale is Jamey Aebersold's How to Play Jazz and Improvise Volume 1 (1970 revision, p. 26), and Jerry Coker claims that David Baker may have been the first educator to organise this particular collection of notes pedagogically as a scale to be taught in helping beginners evoke the sound of the blues".

Das wäre natürlich nur das Modell der "Scale".

Der Ursprung afroamerikanischer Musik an sich ist plausibel, aber einen konkreten Zeitpunkt oder Autor wird man wohl nicht ergründen können...
 
Ist das irgendwie belegt ?

Wenn man die b5 bei der Moll-Bluesskala weglässt (die kam erst später dazu), bleibt die Mollpentatonik übrig. Analog bei der Dur-Bluesskala, da fällt dann die kleine Terz weg. Die Pentatonische Skala wird überall auf der Welt verwendet, beim Blues ist der Ursprung in Afrika.
 
Wenn man die b5 bei der Moll-Bluesskala weglässt ...
Ja, aber kein Mensch hat sie je weggelassen ... also ist das alles mehr als theoretisch und nicht sehr schlüssig. Finde ich.

Thomas
 
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Weil meines Wissens, das weder aktuell noch vollständig sein muß, liegt der Ursprung der Bluesscale anderswo.
Lass mich raten...
x-files.jpg


Wie Du mich zitierst ist genau richtig, es geht mir gar nicht um den "Ursprung", das wäre eine Frage für die Musikwissenschaft/Musikethnologie.
Ich benutze nur den musiktheoretischen Terminus des offenbar vorliegenden Tonmaterials und das wird nun einmal in diversen Lehrbüchern als Pentatonik bezeichnet. Ich habe nachgeschaut, finde aber in meiner Sammlung an bekannten Jazz-Harmonielehren keinen anderen Begriff dafür, da sollte vielleicht eine seriöse Quelle als wörtliches Zitat reichen.
Die traditionelle Blues-Skala ist also eine durch #4/b5 erweiterte Form der Mollpentatonik.
Frank Sikora, Neue Jazzharmonielehre, S. 202

Ursprung bzw. Ursprünge der Elemente des Blues untersuchen Musikethnologen wie z.B. Gerhard Kubik, Africa and the Blues oder David Evans und natürlich gibt es auch keinen Exklusiv-Anspruch der Pentatonik auf die Melodik des Blues.

Bei Portia K. Maultsby fand ich eine schöne Übersichtstafel, die viele Verknüpfungen von Einflüssen aufzeigt, wenn man von den stilgebundenen Ergebnissen ausgeht. Natürlich blieben diese unterschiedlichen Einflüsse auch nicht ohne Auswirkung auf das melodische Material und reichen über Pentatonik hinaus, wie z.B. die Chromatik bzw. Inflections, Slides & Bendings bei Ma Rainey, Bo-Weavil Blues 1924 oder Elemente der europäischen Musik im St. Louis Blues, reizvoll kontrastiert bei Bessie Smith mit Louis Armstrong 1925.
Portia K Maultsby, Africanisms in African American Music.jpg

Gruß Claus
 
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