Mit Mythen aufgeräumt: "Man dehnt die Saiten vor" oder ähnlich

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Hallo liebe Leute,

ich stelle das mal nicht in den Main-Thread zur Gitarre, aber vielleicht sollte ich das.

Habt ihr schon einmal gehört, dass ihr, wenn ihr neue Saiten auf einer Gitarre einspannt, dann diese "vor-dehnen" solltet oder so? Also, ihr könnt zum Beispiel am 12. Bund ziehen, damit die Saiten schneller gestimmt sind? Ansonsten dauert das "dehnen" länger? Das sieht man auch in so manchem Experten-Video, und es wird der Ausdruck "dehnen" benutzt! Also: "Dehnen wir die Saiten vor", damit sie gestimmt sind?

Nun räume ich mal mit dem Mythos auf, und ich hoffe, das verhagelt euch nicht den Appetit auf ein Bier!

Lasst uns mal logisch an die Sache ran gehen. Wie ihr sicherlich wisst, funktioniert die Welt der Technik am besten, wenn Systeme linear sind. Ohne euch volllabern zu wollen, der Punkt ist der: Eine Gitarrensaite kann nur gut klingen, wenn sie im gewünschten Frequenzbereich linear ist, und das heißt: Die Deformation der Saite ist elastisch. Das heißt, die Gitarrensaite verstimmt sich nicht selbst irreparabel, wenn ihr die Saite spielt.
Ansonsten ist die Saite nämlich kaputt! Das ist, als ob ihr an eine recht kleine Feder einen Elefanten hängt. Entweder, die Feder reißt, oder ist irreparabel verändert.

Was tatsächlich passiert bei den Standard-Tunern: Ihr habt dann ja die Saiten eingesteckt und gerollt, damit die Mechanik die Saite halten kann (Rollreibung), eventuell noch über Kreuz gewickelt, sprich: Durch Erhöhung des Zuges kann die Saite zum Beispiel an der Mechanik noch Platz rausholen, sozusagen, die Saiten können näher aneinander rücken. Dieser Vorgang ist höchst nicht-linear und ihr könnt viel Zeit sparen, wenn ihr ordentlich am 12. Bund zieht. Dann rückt sich quasi einiges zurecht, in einem Video hieß es ganz nett "Schlupf rausziehen" (sogar bei Locking Tunern). Ansonsten geschieht das halt über die Mechanik und dem Drehen, dauert länger, aber der Effekt ist der gleiche, die Saiten finden die perfekte Position.

Und nun erst beginnt das stimmen! Nun werden die Saiten linear so gedehnt, dass sie in der korrekten Tonlage schwingen.

Ganz einfach erlebt man dies, wenn man eine Gitarre mit Locking-Tunern hat. Man steckt die Saite einfach ein und man kann natürlich an der Saite ziehen, aber die Saite ist viel schneller akkurat und dauerhaft gestimmt, da es viel weniger Möglichkeiten für den Schlupf gab. Mit Dehnung hatte das nichts zu tun.

Liebe Grüße!
 
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Nun räume ich mal mit dem Mythos auf, und ich hoffe, das verhagelt euch nicht den Appetit auf ein Bier!
da bin ich ja "gespannt". Wieder ein Thema, das man von allen Se(a)iten wissenschaftlich betrachten kann........
 
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Lass mich raten, du hast gerade ein technisches Studium angefangen, kommst gerade von einem Bierchen mit Studienkollegen heim, und jetzt quillt die Weisheit aus dir heraus. Bin gespannt was deine schlauen Bücher zum Klang von Holz, Kondensatoren und Finger sagen. Und wie das Ganze hier ankommt… :prost: :popcorn2:

Gruß,
glombi
 
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Wenn schon Haarspalterei, dann aber richtig.

Da die Saite ja um die Mechanik gerollt ist, haben wir ja schonmal einen größeren Außen- als Innenradius, also schon mal (zumindest bei den Umwickelten Saiten) Dehnung außen, Stauchung innen.
Bei Gitarren mit 3/3 Anordnung der Mechaniken haben wir meist auch eine Führung vom Sattel nach Außen, wieder Stauchung und Dehnung.
Steg/Vibrato noch eine Umlenkung mit Stauchung/Dehnung.

Ja im Bereich Sattel bis Steg haben wir eine lineare Spannung ohne Winkelung und Biegestellen, aber davor und danach finden Kaltverformungen statt und eine Kaltverformung hat immer einen Einfluss auf die Masseanordnung im Material.

Ist übrigens schön an den bleibenden Biegestellen zu sehen, wenn die Saite mal wieder entfernt wird.
 
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Genau @klaatu ! Wollte ich auch gerade posten... :D
 
Nun räume ich mal mit dem Mythos auf

Da spricht mal wieder der E-Gitarrist! Mir ist diese Sache von der Konzertgitarre bekannt und deren Saiten bestehen meist aus Nylon. Bei Metallsaiten soll das "Dehnen" dafür sorgen, dass die Saite richtig aufliegt, wie es ein Hersteller beschreibt:

Auch wenn du sie korrekt aufgezogen hast, haben Saiten direkt aus der Schachtel die Tendenz, nach ein paar Licks die Stimmung zu verlieren. Um endloses Nachstimmen zu vermeiden, solltest du jede Saite über den Tonabnehmern greifen und leicht nach oben ziehen, weg vom Korpus, um zu vermeiden, dass sie an Sattel, Steg oder an den Mechaniken locker sitzt. Du solltest die Saiten also im besten Sinne dehnen: Zu hartes Ziehen kann die Saitenwicklung unwiderruflich beschädigen. Als nächstes werden sie leicht hinter Sattel und Steg gedehnt. Wenn du ein kräftiges Bending spielen kannst und die Saite anschließend zur korrekten Tonhöhe zurückkehrt, ist sie bereit für präziseres Stimmen.

Bei ursprünglichen Materialien wie Schafsdärmen, aus denen früher die Saiten bestanden war/ist das Problem mit dem Dehnen noch viel schlimmer:

Die klassische Situation ist folgende: Man hat ein Stimmzimmer irgendwo hinter der Bühne, ein angenehm temperierter Raum, fühlt sich da ganz wohl und stimmt sich da ein. Und dann nimmt man seine Geige, betritt die Bühne, der Saal ist voll, die Leute kommen sogar aus dem Regen, außerdem stellen sie das Atmen nicht ein, sondern sorgen dafür, dass die Luftfeuchtigkeit dort erhöht wird. Vielleicht sorgen sie dort auch dafür, dass es wärmer wird da drinnen. Dann hat man gerade seine Geige gestimmt und in der nächsten Viertelstunde macht die schlapp im wahrsten Sinne des Wortes. Also, die Saiten dehnen sich aus aufgrund der Feuchtigkeit und der Temperatur. Und was passiert: sie sacken ab.

Auch Nylon ist elastischer als Stahl und das wurde auch schon wissenschaftlich untersucht:

Die Erfahrung des Gitarrenspielers lehrt, dass in aller Regel nach einigen Tagen die Relaxation der Kunststoffsaiten soweit abgeschlossen ist, dass ein weitgehend stationärer Endzustand erreicht ist. Zwar verstimmt sich eine Gitarre immer wieder. Jedoch ist dann zu beobachten, dass nicht – wie zu Beginn der „Lebenszeit“ einer frisch aufgezogenen Saite – die Spannkraft regelmäßig nachlässt und die Wirbel immer in Richtung einer weiteren Dehnung der Saite gedreht werden müssen. Vielmehr kann dann auch eintreten, dass die Wirbel in der anderen Richtung gedreht werden müssen. Beispielsweise in Folge von Temperatureinflüssen, die auf Instrument und Saiten wirken, erhöht sich dann auch hin und wieder die Spannung, so dass die Saite entlastet werden muss, um auf ihre nominale Note gestimmt zu werden.

https://www.researchgate.net/public...he_Eigenschaften_von_Nylonsaiten_fur_Gitarren

Fazit: Auch unter diesem Aspekt ist es sinnvoll, sich mit Akustikgitarren zu beschäftigen!
 
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Auch Nylon ist elastischer als Stahl und das wurde auch schon wissenschaftlich untersucht:
Bei den verschiedenen Werkstoffen gibt es eine sogenannte Elastizitätsgrenze. Solange die Belastung /Dehnung noch unterhalb dieser Grenze bleibt, kehrt der Werkstoff bei Entlastung in seine Ausgangsform zurück. Wird er darüberhinaus belastet findet eine bleibende Verformung bis hin zum Bruch statt. Das gilt für jegliche Form der Belastung, also Zug, Druck und Biegung gleich.
Bei Kunststoffen wie Nylon gibt es aber noch einen zusätzlichen Effekt. Sie können bei dauerhafter Belastung wie bei einer gespannten Saite auch unterhalb der Elastizitätsgrenze mit der Zeit eine Verformung erfahren. Das nennt man Spannungsrelaxation.
Kann man gut bei Luftballons beobachten. Bläst man die auf und lässt die Luft gleich wieder raus, gehen die in die Ursprungsform zurück. Bleiben sie 2 Tage aufgeblasen und man lässt dann die Luft raus, ist der leere Ballon größer und labbriger als vorher.
Bezogen auf eine Gitarrensaite bedeutet das sie verliert Spannung, der Ton wird tiefer, es muss nachgestimmt werden.
Dabei wird die Saite nach und nach härter und stimmstabiler.

Man kann man durch "Recken" (Saiten vordehnen) diesen Effekt beschleunigen. Die Saite ist dann schneller stimmstabil. Reckt man zu stark, kann sie aber auch schnell reißen.
Es gibt m. W. auch vorgedehnte Saiten. Da hat das der Hersteller schon gemacht. Wie sich das auf Klang und Haltbarkeit auswirkt, weiß ich nicht.
Spiele selber nur Stahlsaiten, außer auf der Uke, und die hab ich noch nie gewechselt.
 
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man muß hier eindeutig unterscheiden :opa:
es gibt die Saiten-Vordehner, und es gibt die Saiten-Nachdehner
2 völlig verschiedene Ansätze im Geschehen

sehr gut nachzulesen im vom Klaatu verlinkten Thema, also hau mal rein ;)
 
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Geiler Thread! :popcorn2::popcorn2:
 
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Hab mir das von @klaatu gerade mal grob angeschaut.
Meiner Ansicht nach werden da auch Stahl und Nylonsaiten über einen Kamm geschert. Das ist falsch!
Bei ner Stahlsaite bringt vordehnen im Gegensatz zur Nylonsaite garnichts.
Der größere Effekt ist da das Nachdehnen (besser wäre es als Formanpassen zu bezeichnen).
Die im Vergleich zur Nylonsaite sehr steife Stahlsaite hat nach dem ersten Stimmen noch Übergangsradien an Brücke, Sattel, etc.
Also die Saite versucht in einer Kurve über die "Ecken" zu gehen. Der Weg ist aber länger.
Sobald die Saite von Punkt zu Punkt eine Gerade beschreibt, hat sie die kürzeste Länge und ist stimmstabil.
Wenn ich die Saiten nach dem Aufziehen dehne (durch Ziehen oder Überstimmen), werden aus den Kurven schneller Knicke.
 
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Mist...ich habe alles nur eingebildet! :oops::unsure:

Nein, natürlich nicht...

Der alte Mann hier erhebt nach über 40 Jahren des eigenen Ausprobierens und ich weiß nicht wie vielen eigenen und fremden (E) Gitarren, einen deutlichen Einspruch. ;-)

Ich verstehe nicht warum man hier oft über Dinge diskutiert, die man doch selbst relativ einfach ausprobieren kann? ;-)

Möge halt jeder mit seinen Saiten tun was er möchte, ich zerre immer an direkt nach dem Aufziehen kurz aber etwas kräftiger an den Strippen, inklusive einiger sehr kräftiger "Bendings". Sie halten dann definitiv ewas schneller die Stimmung. Selbst bei Locking-Tunern ist das noch spürbar.

Mir ist übrigens auch völlig Hupe warum. Ob die jetzt vor sich hin "schlüpfen", ihre Länge ändern oder die Zahnfee schuld ist. ;-)

PS:
Ich habe neulich eine fremde Gitarre in einem Seminar-Raum gesehen, da hat jemand die Saiten nach dem Motto aufgewickelt: Bezahlt ist bezahlt, jeder Zentimeter muss also drauf.
Dazu sehr dünne E-Gitarren Saiten auf einer A-Gitarre. Ich habe selten solche irren Knubbel gesehen. ;-) Schade, ich habe nicht daran gedacht ein Foto zu machen.
 
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ich zerre immer an direkt nach dem Aufziehen kurz aber etwas kräftiger an den Strippen, inklusive einiger sehr kräftiger "Bendings".
Ganz genau so mache ich das auch seit 40 Jahren!
 
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Es geht dem TE doch nur um die Begrifflichkeit. Auch bei „Zerren“ wird die Saite kurzzeitig (hoffentlich nur elastisch) gedehnt. Ziel der Aktion ist es aber nur, das „Spiel“ gezielt und kurzfristig aus dem System zu bekommen, damit das nicht erst schleichend beim normalen Spielen passiert, was zu unerwünschten „Verstimmungen“ führt…

Gruß,
glombi
 
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Nach dem lesen dieses Threads bin ich auch leicht verstimmt, wahrscheinlich als Folge von einem Sturz beim joggen gestern, bei dem ich mir eine leichte Zerrung geholt habe.

Seit ich denken kann wechsele ich meine Saiten, ziehe kurz dran, stimme sie nach und wiederhole das solange bis sie sich durch Zug nicht mehr verstimmt. Macht das jemand anders?
 
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@glombi
Ich präzisiere: "Ich ziehe natürlich mit dem jeweils notwendigen Feingefühl an den Saiten". ;-)
Was meinst du denn mit "elektrisch gedehnt"? Das verstehe ich nicht?

Ich wickel das Zeug halt sinnvoll auf, "dehne/ziehe" die Saiten und spiele.
Das geht schnell, das ist kein Hexenwerk und da verstimmt sich wenn/dann alles halt nur noch im Rahmen des Üblichen. (.z.B. Temperatur)
Aber ok, man kann natürlich auch die Begrifflichkeit diskutieren. :prost:
 
🍿🍿🍿
Promovierte Metallurgen anwesend?
 
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Als ich in den 90ern mit der Gitarre angefangen habe, habe ich das unter "Schlupf ziehen" kennen gelernt. Und wie du oben schon erwähnt hast, macht das auch durchaus Sinn um die Saiten in ihre optimale Position zu bewegen.
Ob das jetzt dann auch als Saiten dehnen bezeichnet wird, ist eigentlich egal... bzw ist diese Bezeichnung immer noch passender als etwa das sehr geläufige "Bundreinheit einstellen"
 
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