Wieso nutzt man bei Tonleitern zwei Halbtonschritte aus philosophischer Sicht?

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Mikkel
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Dur und Moll(natürlich, melodisch und harmonisch) sind ja Kirchentonarten, wieso wählt man aber Halbtonschritte an bestimmten Stellen? Und wieso klingen zwei Tonleitern mit unterschiedlichen Grundtönen vom Klangcharakter gleich wenn man gleiche Halbtonschritte wählt? Und wieso nutzt man genau zwei Halbtonschritte? Welcher philosophische Hintergrund besteht?
 
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Erst mal: nicht für alles gibt es einen philosophischen Hintergrund. Vieles in der Musik beruht auf Hörgewohnheiten, die sich nicht akustisch oder philosophisch begründen lassen.

Dur und Moll(natürlich, melodisch und harmonisch) sind ja Kirchentonarten,

Das nimmst du hier in diesem Halbsatz quasi als Voraussetzung - so selbstverständlich sollte man das aber nicht gleichsetzen. Unsere heutigen Dur- und Mollsysteme sind eher Ergebnisse musikalischer Entwicklungsprozesse, in denen die Kirchentonleitern eine gewisse Rolle spielten.

wieso wählt man aber Halbtonschritte an bestimmten Stellen?

Das klingt so, als sähest du das Wählen von Halbtonschrittpositionen als einen bewussten Akt. Das ist nicht so. Skalen sind Systematiken, mit denen existierende Musik beschrieben wird. Aber Skalen entstehen nicht dadurch, dass sich jemand bewusst Positionen für Halbtonschritte ausdenkt. Die ersten schriftlichen Niederlegungen von Skalen fanden um das Jahr 1000 herum statt, wie du im Abschnitt "Modalität" des Wikipedia-Kirchentonart-Artikels nachlesen kannst. Insbesondere ist diese Stelle wichtig:


Jede gregorianische Melodie kann einem von acht diatonischen Modi zugeordnet werden, die sich am besten als Melodiefamilien charakterisieren lassen. In jedem Modus gibt es ausgezeichnete Tonstufen, die als herausragend gehört werden und die bei der Melodiebildung wichtige Rollen spielen.

Um deine Frage nach den Hintergründen der Halbtonschritte und damit der Skalen zu beantworten, könntest du dich mal mit den gregorianischen Gesängen der Jahre 800-1100 beschäftigen. Da wurden viele wichtige Grundlagen gelegt, weil zu dieser Zeit die ersten musiktheoretischen Traktate und Notationen entstanden. Erst dadurch wurde eine überregionale klosterübergreifende Musikkultur möglich, die später auch Auswirkungen auf die weltliche Musikkultur hatte.

Und wieso klingen zwei Tonleitern mit unterschiedlichen Grundtönen vom Klangcharakter gleich wenn man gleiche Halbtonschritte wählt?

Weil wir Menschen in der Regel relativ hören. Für uns sind relative Abstände zwischen den Tönen wichtig, nicht absolute Tonhöhen. Das ist vermutlich eng an unsere Fähigkeiten zum Sprechen und Verstehen von Sprache gekoppelt. In der Sprache sind ja auch relative Klänge wichtig, nicht so sehr die absoluten. Das kann man gut sehen, wenn man als Hochsprachler Dialekte verstehen will: man muss sich erst mal ein paar Sekunden auf die Regeln einstellen, die in diesem Dialekt gelten, dann macht es z.B. keine Schwierigkeiten mehr, einen "ö"-Laut als Vokal "e" zu erkennen (wie im Österreichischen). Auch Sprachmelodien innerhalb eines Satzes sind sehr vom Sprecher abhängig - aber in jedem Fall steht eine aufsteigende Sprachmelodie für Anspannung. Egal, wo sie startet und wo sie endet. Die relative Bewegung der Sprachmelodie ist bedeutungsvoller für den Sinn, als ihre Start- und Endpunkte.

Und wieso nutzt man genau zwei Halbtonschritte? Welcher philosophische Hintergrund besteht?

Das ist eine Tradition, die in unserer westlichen Musikkultur eine Konvention ist. Sie dürfte auch auf die Gregorianik des Frühmittelalters zurückzuführen sein. Einen philosophischen Hintergrund würde ich nicht vermuten, eher eine Tradition, die nie lange und tiefgehend in Frage gestellt wurde. Die Aufteilung einer Oktave sieht in anderen Musikkulturen ganz anders aus, und warum es in unserem Dur-/Moll-System ausgerechnet zwei Halbtonschritte sind, hat keinen philosphischen Grund.

Harald
 
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Skalen sind Systematiken, mit denen existierende Musik beschrieben wird. Aber Skalen entstehen nicht dadurch, dass sich jemand bewusst Positionen für Halbtonschritte ausdenkt.
:great:
Das ist ein (zutreffender) Kern-Satz, der man auch in anderem Zusammenhang stets gegenwärtig haben sollte, meiner Meinun nach (z. B. bei den ewigen Skalen-Gerede bei den Improvisations-afinen unter uns ...)LG, Thomas
 
Dur und Moll(natürlich, melodisch und harmonisch) sind ja Kirchentonarten, wieso wählt man aber Halbtonschritte an bestimmten Stellen? Und wieso klingen zwei Tonleitern mit unterschiedlichen Grundtönen vom Klangcharakter gleich wenn man gleiche Halbtonschritte wählt?

Letzteres liegt am Relativhören, wie von Harald erwähnt. Er wies auch schon darauf hin, daß Dur und Moll nicht einfach als Kirchentonarten bezeichnet werden können.
Dur und Moll entwickelten sich erst, als die Musik nicht mehr modal sondern akkordisch-tonal verstanden wurde.

Erst um 1430 entwickelte sich eine dominantische Tonalität und erst ab 1550 treten alle drei Hauptfunktionen auf: Tonika, Dominante und Subdominante (vgl. früheren Post). Es entwickelte sich die Kadenz und in der Folge methodische Anleitungen zur fehlerfreien Handhabung der Klangverbindungen (Harmonielehren).

Und wieso nutzt man genau zwei Halbtonschritte? Welcher philosophische Hintergrund besteht?
Das ist eine Tradition, die in unserer westlichen Musikkultur eine Konvention ist. Sie dürfte auch auf die Gregorianik des Frühmittelalters zurückzuführen sein. Einen philosophischen Hintergrund würde ich nicht vermuten, eher eine Tradition, die nie lange und tiefgehend in Frage gestellt wurde. Die Aufteilung einer Oktave sieht in anderen Musikkulturen ganz anders aus, und warum es in unserem Dur-/Moll-System ausgerechnet zwei Halbtonschritte sind, hat keinen philosphischen Grund.

Ich nehme an, daß Mikkel mit "philosophischem Hintergrund" auch alle möglichen tieferen Gründe meint, welche die zwei Halbtonschritte erklären können. Diese lediglich als gesellschaftlich und kulturell bedingt zu erklären, würde den Aspekt der Natur ausblenden. (Konventionen sind soziale Normen.)

Doch Mikkels Gedanken vom "philosophischen Hintergrund" wird im vorliegenden Fall sogar durch die Philosphiegeschichte gestützt.

In den zwanziger Jahren des 6. Jahrhunderts v. Chr. wurde die religiös-philosophische Schule der Pythagoreer gegründet.
Ganzzahlige Zahlenverhältnisse spielten eine zentrale Rolle in ihrer Philosophie:
Alle Pythagoreer teilten die Grundüberzeugung, die gesamte erkennbare Welt sei eine auf der Basis bestimmter Zahlen und Zahlenverhältnisse aufgebaute, prinzipiell harmonisch gestaltete Einheit. Diese Gesetzmäßigkeit bestimme alle Bereiche der Wirklichkeit gleichermaßen. Die Kenntnis der maßgeblichen Zahlenverhältnisse betrachteten sie daher als den Schlüssel zum Verständnis von allem und als Voraussetzung für eine gute, naturgemäße Lebensführung. Ihr Ziel war es, die unterschiedlichen und gegensätzlichen Kräfte durch Ausgewogenheit zu einem harmonischen Einklang zu bringen, sowohl im menschlichen Körper als auch in der Familie und im Staat. Dabei wollten sie das, was sie als Maß, Ordnung und Harmonie zu erkennen meinten, überall in der Natur finden und in ihrem eigenen Leben wahren. Sie gingen also von einer ganzheitlichen Deutung des Kosmos aus. Das, was in ihm in Unordnung geraten war, wollten sie in die natürliche Ordnung zurückbringen. Im Sinne dieses Weltbildes hielten sie alle beseelten Wesen für miteinander verwandt und leiteten daraus ein Gebot der Rücksichtnahme ab.
Quelle:http://de.wikipedia.org/wiki/Pythagoreer#Lehren_und_Legenden

Die Entdeckung der "sinngebenden Kraft mathematischer Strukturen" hält einer der bedeutentsten Physiker, Werner Heisenberg (1901-1976), "zu den stärksten Impulsen menschlicher Wissenschaft überhaupt".
Quelle: Zur Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens – von Walter Höflechner – Zentrum für Wissenschaftsgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz –Oktober 2007

Die Pythagoreer haben sich ausführlich mit Musik befaßt und mit Experimenten (z.B. Monochord) grundlegende Entdeckungen gemacht.
Nach ihnen ist eine der historisch wichtigsten Stimmungen benannt, die Pythagoreische Stimmung.
Stapelt man sechs reine Quinten übereinander, so kommt man auf die siebentönige pythagoreisch gestimmte Tonleiter.

Das könnten z.B. folgende Töne unseres Tonsystems sein:

F C G D A E H

Der Tonhöhe nach angeordnet:

C D E F G A H C

Damit ist die Struktur von Halbton- und Ganztonschritten festgelegt: Halbtöne folgen immer abwechselnd nach zwei oder drei Ganztönen.

Bei den Chinesen war dieses System schon früh gebräuchlich, eher als lydische Tonart. Die Mongolen haben später in China die ionische Tonart verbreitet.

Bei ihren Versuchen entdeckten die Pythagoreer, daß man nach einer Stapelung von 11 Quinten fast wieder beim Ausgangston ankommt. (Der Unterschied heißt Pythagoreisches Komma. Dieses wird in der heutigen gleichstufig-temperierten Stimmung gleichmäßig über alle Quinten verteilt, inden man sie etwas enger stimmt.)

Tausende von Jahren vor den Pythagoreern war schon die Pentatonik bekannt, dokumentiert durch Funde von Knochenflöten - die sicherlich noch früher existierende Holzflöten konnten sich nicht erhalten.

Die Pentatonik ist in sehr vielen Kulturen verbreitet. Auf die (anhemitonische) Pentatonische Tonleiter kommt man leicht durch eine Stapelung von fünf Quinten. Außerdem läßt sie sich aus den Intervallbeziehungen der ersten Töne der Naturtonreihe ableiten.

Damit hätten wir schon naturgesetzliche Begründungen des Tonsystems der heute gebräuchlichsten Tonleitern.
Nicht der Mensch hat bestimmt, daß Oktav, Quint zu den harmonischsten Intervallen zählen, daß sich zwölf Töne fast zu einem Quintenzirkel schließen und daß diese Intervalle z.B. im Instrument der menschlichen Stimme als Obertöne die bedeutenste Rolle spielen. (Gefolgt von der Terz, welche prägend für die Dur-Moll-Tonalität ist.)

Selbstverständlich ist Musik nicht auf Naturgesetze beschränkt und sie lebt nicht zuletzt davon, daß sie ein großes Spektrum darstellen kann, das sich bewegt zwischen: Gesetz und Chaos, Harmonie und Disharmonie.

Mit der Auswahl eines Tonsystems, das Naturgesetze berücksichtigt, konnte sich historisch gesehen in unserem Kulturkreis eine Hochkultur mehrstimmiger Musik entwickeln. In Auseinandersetzung dieses Dur-Moll-Systems mit andersartigen afrikanischen Stimmungen (die übrigens z.B. die Naturseptime enthalten) konnte sich Blues, Jazz und die heutige Rockmusik entwickeln.

Viele Grüße

Klaus
 
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Hier fehlt eine kleine aber brisante Tatsache physikalischer Natur : Wenn man einen Ton auf einem Instrument spielt , finden sich alle zwölf Halbtöne unserer Notenskala irgendwo im Obertonspektrum wieder.
(Obertöne sind die feinen Schwingungen über dem Grundton , die die Klangfarbe eines Instruments ausmachen).Also harmonisiert jeder Halbton irgendwie mit dem Grundton , wenn auch gelegentlich etwas "schräg".So ist diese Unterteilung nicht willkürlich , sondern ganz logisch so entstanden, finde ich.
Immanuel Kant (Die Kritik der reinen Vernunft) wäre da vielleicht anderer Ansicht , da beginnt dann die eigentliche philosophische Diskussion.
 
Danke für eure mühevollen Beiträge!

Die Pythagoreer haben sich ausführlich mit Musik befaßt und mit Experimenten (z.B. Monochord) grundlegende Entdeckungen gemacht.
Nach ihnen ist eine der historisch wichtigsten Stimmungen benannt, die Pythagoreische Stimmung.
Stapelt man sechs reine Quinten übereinander, so kommt man auf die siebentönige pythagoreisch gestimmte Tonleiter.

Das könnten z.B. folgende Töne unseres Tonsystems sein:

F C G D A E H

Der Tonhöhe nach angeordnet:

C D E F G A H C

Damit ist die Struktur von Halbton- und Ganztonschritten festgelegt: Halbtöne folgen immer abwechselnd nach zwei oder drei Ganztönen.
.

Ja klar aber das sind die Stammtöne, wo aber nun Halbtonschritte vorhanden sind, bestimmen aber Alterationen. Aber wieso sind in Dur zwischen E und F sowie H und C keine nach oben alterierten Noten mit dem gleichen Buchstaben jedoch mit Vorzeichen (wie z.B. Eis oder His)?
Und wieso hat sich Dur(als Kirchentonart Ionisch) und Moll(äolisch) durchgesetzt und nicht eine der anderen Krichentonarten?
Wieso haben die zwei Halbtonschritte? Denn die chromatische Tonleiter hat 12 Halbtonschritte, wieso wird sie nicht einfach verwendet?(quasi keine Unterscheidung zwischen Halb- und Ganztonschritt)
 
Also harmonisiert jeder Halbton irgendwie mit dem Grundton , wenn auch gelegentlich etwas "schräg".

Am "schrägsten" wohl der Tritonus, neben kleinen Sekund. Daß die anderen -isoliert betrachtet- meist recht harmonisch klingen hat mit Übereinstimmungen in den Obertonreihen der beteiligten Töne zu tun und weniger diesen Grund:

Wenn man einen Ton auf einem Instrument spielt , finden sich alle zwölf Halbtöne unserer Notenskala irgendwo im Obertonspektrum wieder.

Die chromatische Tonleiter direkt aus der Obertonreihe ableiten zu wollen, würde in die Irre führen:

Die naheliegendsten und stimmigsten Töne bei einem Grundton C, wären:
C G E D H A
Das A wäre schon der 27. Teilton (26.Oberton); wir haben immer noch kein plausibles F, aber jede Menge sog. "ekmelischer" Töne. (Eine Ekmelische Musik hat bisher keine sonderlich große Bedeutung. Vielleicht kommt das noch?)
Je höher die Obertöne liegen, desto leiser und irrelevanter werden sie für gewöhnlich.

Um den 16. Teilton herum finden sich zwei Obertöne, die nicht sonderlich stark von der gleichstufigen Stimmung abweichen.
Das H (15. Teilton) wäre der natürlicher Halbtonschritt. Das Cis/Des (17. Teilton) weicht knapp 5 Cent von der gleichstufigen Stimmung ab, für das Dis/Es wäre die Abweichung schon recht groß, auch das Das B (14. Teilton = Naturseptim) ist wird in unserer chromatischen Tonleiter wegen zu großer Abweichung nicht akzeptiert.

Erst aus akustisch irrelevanten Obertonbereichen könnten akzeptable Töne für eine chromatische Tonleiter gewonnen werden.

Die heptatonische Tonleiter läßt sich aber aus den Intervallbeziehungen der ersten Töne der Obertonreihe leicht ableiten. Wie schon erwähnt, basiert die Pythagoreische Stimmung auf der reinen Quint (und Oktav), die reine Stimmung auf der reinen Quint und Terz.

Möchte man auch in anderen Tonarten auf Tasteninstrumenten transponieren, so muß man Kompromisse eingehen und entwickelte die Mitteltönige Stimmung (reine Terzen) und verschiedene andere Stimmungen, wobei sich die gleichstufige Stimmung heute durchgesetzt hat.

Letzlich ist es wohl so, daß unsere Musik auf übersichtlichen sieben Tönen basiert, die das o.g. Muster von Ganz- und Halbtönen aufweisen. Dieses Muster läßt sich aus der Quintenreihe ableiten, was zur Pythagoreischen Stimmung führt. Nimmt man die Terz als konsonantes Prinzip hinzu, so kommt man auf die reine Stimmung.
Da man im Laufe der Zeit ausgiebig modulieren und transponieren wollte, entstanden durch versetzen der siebentönigen Tonleiter die anderen fünf Töne unseres heutigen chromatischen Sytems, das deshalb heute am sinnvollsten gleichstufig gestimmt ist.

Viele Grüße

Klaus



Ergänzung zu Deinen Fragen, die sich mit meiner Antwort überschnitten hatten:

...wo aber nun Halbtonschritte vorhanden sind, bestimmen aber Alterationen.

In der Stammtonleiter wurden die Halbtonschritte nicht durch Alterationen bestimmt. Die entstanden z.B. durch eine Stapelung von Quinten von selbst: F C G D A E H
Und es sind nun mal zwei Halbtonschritte, abwechselnd im Abstand von zwei bzw. drei Ganztonschritten. Was anderes kommt bei dieser Art der Gewinnung von Tönen nicht heraus oder auch bei dem Verfahren zwei Tetrachorde aneinanderzufügen.
Das hat aber zunächst keiner bewußt so konstruiert, sondern das o.g. stellen eher Stimmpraxis und Erklärungsversuche dar.

Und die Stammtonreihe wird durch die Naturtonreihe gestützt, sprich sie klingt auch noch ziemlich harmonisch.

Denn die chromatische Tonleiter hat 12 Halbtonschritte, wieso wird sie nicht einfach verwendet?

Du solltest das Ganze auch als historischen Eintwicklungsprozess betrachten. Die Menschen waren vor einigen Tausend Jahren mit einer Pentatonik zufrieden. Warum sollten sie zu dem Zeitpunkt 12 Halbtonschritte verwenden?

Aus der Pentatonik entwickelte sich in unserem Kulturkreis die Heptatonik in Form der Kirchentonarten.
Für eine chromatische Tonleiter bestand in der musikalischen Praxis (v.a. Gesang) kein Bedürfnis. Warum sollten sie sich damals für Eis oder His interessieren? Die Menschen dachten musikalisch in ganz anderen Kategorien als heute.

Und wieso hat sich Dur (als Kirchentonart Ionisch) und Moll(äolisch) durchgesetzt und nicht eine der anderen Kirchentonarten?

Das war in unserem Kulturkreis so und hat seinen Grund wohl im Entstehen einer hochentwickelten mehrstimmigen Musik mit Kontrapunkt und Harmonielehre. Und natürlich wollte man trotz mehrerer gleichzeitig erklingender Melodielinien (Kanon, Fuge), daß die Musik harmonisch klingt. Dafür stellte man Regeln auf, z.B. Fux: Gradus ad Parnassum

Nun zeigte sich in der Praxis, daß eine harmonische Mehrstimmigkeit am leichtesten mit der Tonart Dur (Tonvorrat ionisch) und auch mit Moll (Tonvorrat äolisch plus zwei weitere Töne: erhöhte 6. und 7. Stufe) bewerkstelligt werden kann. Mit den Tonfolgen der andern Kirchentonarten gibt es häufiger Probleme, die Regeln einzuhalten. Das hatte auch der Musik-Mathematiker und Jazzer Mazzola durch Rechnungen gezeigt, siehe auch hier, S. 24).
Nicht zuletzt spielen die Leittöne eine wichtige Rolle.

(quasi keine Unterscheidung zwischen Halb- und Ganztonschritt)

Das wäre völlig unpraktikabel, denn in der musikalische Praxis spielt nach wie vor die Stammtonreihe die gewichtigste Rolle. Unser Notensystem mit fünf Linien ist auf diese Praxis zurückzuführen und nach wie vor das wichtigste Notationssystem, obwohl über 1000 jahre alt. Alterierte Töne sind die Ausnahmen von der Regel.

Viele Grüße

Klaus
 
Zuletzt bearbeitet:
ich habe hier jetzt nochmal eine konkrete Folgefrage, die sich aus dem ergibt, was mir hier erklärt wird.

Die Chromatik hat 12 Halbtonschritte, wieso verwendet man aber für sämtliche Kirchentonarten nur 2 Schritte?
Was hinter der Zahl 2 in diesem Zusammenhang steht ist das Entscheidende, das mich interessiert. Wieso 2 Halbtöne und nicht 3, 4, 5, oder 6 usw? Warum nicht einmal 2 Ganztonschritte, dann zweimal 1,5 Ganztonschritte usw, sprich eine WILLKÜRLICHE Folge von Tonschritten, die man halt im kompositorischen Werk beibehält?
Das ist ohne Frage die Kernfrage, auf die ich NIRGENDS bisher eine Antwort finden kann.
 
Was hinter der Zahl 2 in diesem Zusammenhang steht ist das Entscheidende, das mich interessiert.

In der Entwicklung der Musik, spielt es eine zentrale Rolle, wie die einzelnen Töne einer Tonleiter miteinander harmonieren. Ganz besonders wichtig ist dies in unserem Kulturkreis, in dem die sich eine Hochkultur der Mehrstimmigkeit entwickelte.

Vorweg: Die Stammtonleiter ist die konsonanteste aller siebentönigen Tonleitern!

Experiment: Wir versuchen eine Tonleiter zu konstruieren mit dem Ziel, sie so konsonant wie nur möglich zu machen. Was sind die konsonantesten Intervalle?

In dieser Reihenfolge: Oktav, Quint, (große) Terz
Quart, Sext und kleine Terz wurden weggelassen, weil sie sich aus Differenzen von Oktav, Quint und Terz ableiten lassen.
Prim können wir auch weglassen, da wir verschiedene und nicht gleich Töne betrachten wollen.


Unser Ziel besteht darin, den gesamten hörbaren Tonbereich möglichst konsonant (harmonisch) zu unterteilen.

Zwei Töne weisen dann einen hohen Konsonanzgrad auf, wenn sie ihr Frequenzverhältnis sich mit einem Bruch aus möglichst niedrigen Zahlen beschreiben läßt, z.B.:

Oktav: 2:1
Quint: 3:2
Quart: 4:3
große Terz: 5:4
usw.


Als erstes teilen wir den Tonraum in Oktavräume ein und nehmen als Referenzton das C.

Dann teilen wir die Oktave mit der Quint:

Von C ausgehend eine Quint nach oben führt zum G
Von C ausgehend eine Quint nach unten führt zum F

Wir haben folgende Töne gewonnen:

C - F - G
(Wir können einmal gewonnene Töne oktavweise beliebig nach oben oder unten versetzen.)

Resultat: Wir haben zwei neue Intervalle gewonnen: Die Quart und die große Sekund
Die Quart ergibt sich als Differnz von Oktav und Quint.
Die Sekund als Differenz von Quint und Quart. Wir haben den Ganzton!


Nun teilen wir diese Quinten mit der Terz:

Gehen wir in der Quinte C - G von C aus eine Terz nach oben, kommen auf das E.
Gehen wir in der Quinte F - C von F aus eine Terz nach oben, kommen auf das A.

Bis jetzt haben wir folgende Tonleiter: C - E - F - G - A
Das ist eine (hemitonische) Pentatonik.

Resultat: Wir haben drei neue Intervalle gewonnen: Die kleine Sekund (E -F), die kleine Terz (A - C) und die große Sext (C -A)
Die große Sext ergibt sich als Summe von und Quart großer Terz.
Die kleine Sekund als Differenz von Quart und Terz. Wir haben den Halbton!


Nun teilen wir die Terzen mit der großen Sekund:

Gehen wir in der Terz C - E von C aus eine große Sekund nach oben, kommen auf das D.
Gehen wir in der Terz A - C (höheres C) von A aus eine große Sekund nach oben, kommen auf das H.

Wir haben die Stammtonleiter: C - D - E - F - G - A - H

Also: Einfach die Oktave harmonisch teilen, die beiden entstehenden Quinten wieder harmonisch teilen und die entstehenden Terzen (groß und klein) wieder harmonisch teilen.

Einem kritischen Geist mag aufgefallen sein, daß wir die die kleine Terz der Pentatonik C - E - F - G - A - C auch anders teilen könnten. Wir könnten vom (höheren) C aus eine große Sekunde nach unten gehen. Dann kämen wir auf B und hätten die Tonleiter: C - D - E - F - G - A - B

Spielt aber für die Fragestellung keine Rolle, denn es ist die mixolydische Kirchentonart, die ebenfalls zwei Halbtonschritte hat.

Durch ein einfaches Teilungsprinzip, mit dem wir die Oktave und die entstehen Teile in zwei Schritten möglichst harmonisch teilen, entsteht automatisch eine Heptatonik, die eben zwei Halbtonschritte hat, nicht mehr und nicht weniger!

Den beschriebenen Weg sind die Menschen in der Urzeit sicher nicht mit mathematischem Bewußtsein gegangen, das haben erst die Chinesen und Griechen geschafft. Doch eines ist klar: Die Menschen erkannten schon früh, wann zwei Töne miteinander harmonieren und wann nicht. Die frühen Funde von Knochenflöten zeigen, daß man sich gezielt um konsonante Intervalle bemüht hat.

Das witzige ist jetzt, daß nicht nur dieses Konsonanzprinzip (Reine Stimmung) zur Stammtonleiter führt sondern auch das Prinzip der Quintstapelung (Pythagoreische Stimmung). Die beiden Tonleitern sind nur so leicht gegeneinander verstimmt, daß es die Menschen lange Zeit nicht sehr störte.

Viele Grüße

Klaus
 
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Ist die Strebewirkung in der tonalen Musik (z.B. einer Dominante zur Tonika) auch in Gewohnheiten begründet oder gibt es da auch mathematische Ansätze?
 
Klaus, vieles was du hier als mathematische Teilung erklärst, kann sich einem Menschen auch durchaus geometrisch erschließen. Man muss es also nicht unbedingt mathematisch erklären können, für vieles reicht ein Stock und eine Sehne aus. Aber gut erklärt
 
Man muss es also nicht unbedingt mathematisch erklären können, für vieles reicht ein Stock und eine Sehne aus.

Hallo Fantus01,

völlig richtig, daß man sich die Konsonanzen auch mit Stock und Sehne erklären kann. Der Bogen war (ist) ja nicht nur Jagwaffe, sondern entwickelte sich auch zum Musikinstrument. Die Pythagoreer dokumentierten dann wohl als erste die Beziehungen zwischen Tonhöhe und Saitenlänge.

Und natürlich kann man die Konsonanzen im Zusammenklang zweier menschlicher Stimmen (dem ursprünglichsten Musikinstrument) entdecken. Man hört ganz einfach, daß es unter der Vielzahl der möglichen Töne ganz bestimmte gibt, die harmonieren.

Den akustischen Grund kennt man heute:

Wenn man einen Ton singt, so handelt es sich in Wirklichkeit um eine Vielzahl von Einzeltönen (Teiltöne). Wir haben aber gelernt, daß sie zusammengehören und nehmen sie nur als Klangfarbe eines Tones wahr.
Bei der Oktave stimmt jeder zweite Teilton in der Frequenz überein, bei der Quint, jeder dritte, bei der Quart jeder vierte, bei der Terz jeder fünfte usw.. Die Übereinstimmung nimmt also ab und damit auch der Konsonanzgrad.

Das muß man gar nicht mathematisch oder geometrisch herleiten. Man hört es einfach!

Mein vorangeganger Post stellt daher nur die mathematische Erklärung/Deutung diese Phänomens dar. Er zeigt aber auch, daß es sich bei unseren Stammtöne nicht um irgendwelche Töne handelt, sondern um ganz besondere. Gerade diese eignen sich besonders zur harmonischen Mehrstimmigkeit.

Ist die Strebewirkung in der tonalen Musik (z.B. einer Dominante zur Tonika) auch in Gewohnheiten begründet oder gibt es da auch mathematische Ansätze?

Die Strebewirkung wird stark unterstützt, wenn Musik grundtonbezogen ist und auf einem akkordischen Verständnis beruht (ab 1550 bis heute).
Dann prägt sich der Akkord der Tonika in das Bewußtsein ein. Weicht jetzt ein Ton der siebentönigen Tonleiter um einen halben Ton von diesem Akkord ab, so steht das in starker Dissonanz zu den Tönen dieses Akkords. In C-Dur würde das für das h und das f gelten. Das h weicht zum Grundton ab, das ist besonders schwerwiegend. Das f weicht einen halben Ton von der Terz e ab, was weniger bedeutend ist. Letzteres ist aber immer noch so bedeutend, daß der Ton f die Auflösungstendenz des G-Dur-Akkordes als G7 unterstützen kann.

In A-Moll wären beim äolischen Tonvorrat ebenfalls die Töne f und h Leittöne. Hier wiegt das f mit der Auflösung zu Quinte stärker als das h mit der Auflösung zur Moll-Terz.
Daher wird in A-Moll dem D-Moll-Akkord eine stärkere Auflösungstendenz als der G-Dur-Akkord zum A-Moll-Akkord zugesprochen. Beide Akkordfolgen zeigen jedoch eine viel geringere Auflösungstendez als in Dur von G nach C. In Moll wird daher meist das g zum gis erhöht, damit man eine kräftige Strebewirkung, nähmlich jetzt ebenfalls zum Grundton, erhält.

Den Aspekt der Gewohnheit sehe ich eher darin, daß man eine Musik überhaupt einmal akkordisch verstehen muß. Das ist nämlich nicht selbstverständlich und fing in unserem Kulturkreis ja auch erst spät an.
In anderen Kulturen fehlt dies vielfach bis heute. Dafür wurde dort oft sehr großen Wert auf die (einstimmige) Melodik (z.B. Arabien) gelegt oder auf sehr eine komplexe Rhythmik (z.B. Afrika).

Da man v.a. ein Verständnis der Musik des eigenen Kulturkreises entwickelt, kann sich die Musik der anderen ziemlich fremd anhören.
In einem Kulturkreis, in dem z.B. die Pentatonik und komplexe Rhythmen eine große Rolle spielen, dürfte man kaum ein Verständnis für die Strebewirkung des Leittons entwickeln, der dort völlig unbekannt und damit fremd klingen würde.

Viele Grüße

Klaus
 
Soweit der Musikwissenschaftler , übrigens ist das was ich anfangs behauptet habe auch noch mal unter
http://de.wikipedia.org/wiki/Oberton#als_Tabelle schön bunt dargestellt , danke nochmals an Wikipedia.org.
Man sollte nicht Musikern eines anderen Kulturkreises unterstellen . dass für sie etwas völlig fremd ist ,
man erlebt oft Überaschungen bei solchen Verallgemeinerungen. Übrigens nennt sich der Forschungszweig der Musikwissenschaften , der sich damit befasst "Musikethnologie", wie ich persönlich finde ein faszinierendes Forschungsgebiet , vielleicht findest Du bei den Musikethnologen Antworten auf viele Deiner Fragen ?
 
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wäre wirklich schön, wenn sich hier so ein Spezie finden würde, ich finde das Thema sehr spannend
 
Ist die Strebewirkung in der tonalen Musik (z.B. einer Dominante zur Tonika) auch in Gewohnheiten begründet oder gibt es da auch mathematische Ansätze?

Halbtonschritte verbinden zwei töne zwingender als ganztonschritte, ob man das als "trägheit" oder "affinität" bezeichnen kann?
Tradition spielt freilich auch eine rolle: unser system beruht auf der 4saitigen griechischen kithara, dieses tetrachord konnte verschieden gestimmt werden, 1+1+1/2 mit dem halbton am ende scheint sich als besonders ohrenfällig und erfolgreich durchgesetzt zu haben, man singe die folge und bemerkt, wie man geradezu zur quarte getrieben wird. Angehängt wurde dann ein zweites, gleichfalls so strukturiertes tetrachord, voilà, mit der 7tönigen kithara (+oktave) war die erfolgreichste tonleiter geboren. Dass bei halblangem, schwingendem medium ein ton herauskam, der mit dem grundton verschmolz (er ist ja schon in dessen obertonreihe enthalten) wusste man schon längst, es kam darauf an, diesen frequenzbereich, der der ungeschulten, menschlichen stimme entspricht, sinnvoll und praxisbezogen auszufüllen.
Die Griechen verwiesen auf die götter, Hermes fand einen schildkrötenpanzer als resonanzboden, Apollo kaufte ihm die erfindung ab und fand die lyrik (gedichte zur "leier"), im mythischen dunkel wollen wir es bewenden lassen. Es gibt zwar den traktat des Aristoxenos http://de.wikipedia.org/wiki/Aristoxenos, auf den viele unserer begriffe zurückgehen, aber wie die praxis aussah und sich anhörte, wissen wir nicht. Vieles aus dem bestand der Gregorianik stammt daher, auf dem wege über Byzanz, Syrien usw. kam es mit dem christentum zurück.
Warum rufen wir "Hallo!" immer mit fallender, kleiner terz, warum gibt es so viele kinderreime auf drei tönen, ob "backe, backe kuchen" oder "hoppe, hoppe reiter"?
Das sind archaische modelle, die der pentatonik und diatonik vorausgehen.
 
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