Improvisation ohne gutes Gehör

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shakerunner
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Hallo zusammen, vielleicht kann mir jemand, der das menschliche Gehirn besser versteht als ich, diese Frage beantworten: Ich studiere Musik (Jazz) und erlebe es im Gehörbildungsunterricht recht häufig, dass selbst Musiker die studieren, große Probleme haben, mal eben eine kleine Terz zu hören, geschweige denn einen Tritonus, mal eben die Subdominante zu erkennen etc. Dennoch sind diese Leute tolle Musiker, die auch ordentlich improvisieren können. Auch unser Gehörbildungslehrer meinte neulich, auch ein Mensch ohne ein tolles relatives Gehör könne ein super Musiker sein. Ich habe eigentlich ein recht gutes Gehör, diese Frage ist nicht arrogant gemeint, sondern aus rein wissenschaftlichem Interesse heraus gestellt, auf die Technik bezogen: Wie funktioniert improvisieren ohne gutes Gehör? Ich kann mir nicht vorstellen, wie man mal eben eine kleine Melodie spielen kann, ohne sie vorher zu "hören". Merken sich die Leute dann bestimmte Töne, auf die sie "aufkommen" können und füllen den Weg dazwischen irgendwie willkürlich? Wenn ich im Jazz improvisiere denke ich mir auch nicht jede Linie vorher, das geht zu schnell, ich habe Orientierungspunkte und fülle die Zwischenräume mit Skalen, ohne das vorher genau zu hören. Muss ich mir das etwa so vorstellen?
Vielleicht outet sich ja jemand, wie gesagt, die Frage ist rein wissenschaftlich :)

Viele Grüße
Shakerunner
 
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Ich riskier eine Antwort, obwohl ich keine Ahnung von entsprechender Wissenschaft habe ... es dauert ein bissl, bis ich bei der Conclusion angekommen bin:

1. Ich kann "normale Intervalle und Akkorde" problemlos erkennen.

2. Wie höre ich Intervalle und Akkorde? "Am Klang". "Am Sound". Ein übermäßiger Akkord "klingt eben so", und eine kleine Terz "so" und ein Tritonus "so". Ich habe da so ein Repertoire an solchen Klänge, und dahinter wird's dann schwierig - ganz langsam lerne ich weitere solche Klänge dazu. Nun bin ich Klavierspieler mit einem etwas ungenauen Gehör, also mit einer gleichschwebenden Stimmung aufgewachsen - daher habe ich kein Gehör (keine "Namen" - keine "differenzierte Erkennung") für die eigentlich mehreren verschiedenen Quinten und Quarten (und anderen Intervalle), die's da gibt - und noch viel weniger für die verschiedenen (z.B. Dur-)Akkorde, die sich damit zusammensetzen lassen. Aus dem großen Spektrum möglicher Akkorde kann ich also schon nur einen relativ kleinen Teil erkennen.

3. Dann hab ich noch eine Defizienz (die mich schwer stört): Mein Gehör interessieren Klangfarben nicht. Ich bin u.a. Organist - aber ich tu mir enorm schwer, mir die Klänge der Register "zu merken" = mit irgendeiner Art von Erinnerung und "Namen" (oder Gefühlen oder was immer) so zu verbinden, dass ich mit ihnen vernünftig "agieren" kann (sprich: Mein Registrieren ist ein elendes Ausprobieren, wo ich immer wieder auf dieselben Registrierungen komme und mich über einen bestimmten Klang (schon wieder! - ich hab ihn ja schon x-mal gefunden!) freue. Also ist mein Repertoire an musikalischen Ereignissen (wenn ich Akkorde und Klänge einmal zusammenfasse) ziemlich armselig im Vergleich zu dem, was "da ist".

4. Ich glaube aber trotzdem, dass ich manche Sachen ganz gut mache - z.B. vieles, was mit normaler Harmonie zu tun hat: Weil ich mich halt bewusst oder unbewusst auf die Sachen beschränke, die ich halbwegs kann. Ein Klangexperimetierer wird aus mir nie werden (wegen 3.), und mit Stimmungen auf "stufenlosen" Instrumenten werde ich mich auch nicht groß beschäftigen.

Quintessenz: Man kann mit einem "relativ kleinen Ausschnitt" aus dem musikalischen Spektrum schon ganz schön viel erreichen.

Wenn nun diese anderen Musiker zwar bei den Intervallen so umfänglich versagen wie ich z.B. bei Stimmungen, aber dafür ein geistiges Repertoire für Melodien (oder Motivstücke), Ausdrucksformen, Klänge haben, dann ist ihr "Spielraum" vielleicht trotzdem so groß, dass sie damit für sich und andere interessante Musik machen können.

Soviel zu einem mathematisch angehauchten Argument, das etwas neben Deine Frage zielt ...

H.M.
 
Wie funktioniert improvisieren ohne gutes Gehör?

Interessante Frage. Ich habe meine persönliche Antwort darauf: indem man sieht und fühlt.

Fast alle Tätigkeiten erlernen wir über eine Kombination von Sehen, Fühlen und Hören. So auch das Spielen von Musikinstrumenten. Auch musikalische Strukturen werden über diese Sinneseindrücke erlernt, eben z.B. Intervalle. Wer kein gutes Gehör hat, kann das durch Hinschauen und Fühlen ausgleichen - ebenso können ja auch z.B. blinde Jazzmusiker spielen, indem sie den defizitären Sehsinn durch Fühlen und Hören ausgleichen. Auch taube Musiker, allen voran Beethoven, haben ja noch bemerkenswerte Werke geschaffen.

Eine Terz fühlt sich auf jedem Instrument eben auf eine ganz charakteristische Weise an, ebenso wie ein kompletter Akkord am Klavier, eine Walking-Bass-Linie auf dem Kontrabass etc. . Wenn man improvisiert und dabei bestimmte musikalisch-konstruktive Absichten verfolgt, kann man bei deren Umsetzung natürlich auf die Lernerfahrung durch Hören wie auch auf die Lernerfahrungen durch Sehen und Fühlen zurückgreifen.

Ich halte es für eine wertvolle Übung, auf elektronischen Instrumenten mal den Klang auszuschalten und nur zu sehen und zu fühlen. Es ist zwar etwas strange, am stummgeschalteten E-Piano einen Standard zu spielen und darüber zu improvisieren, aber es trainiert das Gehör durchaus - weil man nur fühlen und sehen kann, ob es richtig klingen müsste. Das mache ich mit meinen Jazzpianoschülern manchmal (nur nicht zu exzessiv :)).

Harald
 
Ich lasse Schüler und Studenten gerne Improvisationen singen, vollkommen isoliert von ihrem jeweiligen Instrument. Die direkteste Verbindung zwischen dem, was du dir im Kopf zusammenreimst und dem Hörbarmachen für Umstehende ist nunmal deine Stimme. Hier erkennt man auch schnell, wer wirklich eine Vorstellung von dem hat, was er zu spielen gedenkt oder wer nur bekanntes Material intellektuell zitiert und variiert. Viele Instrumentalisten lernen visuell (nicht bezogen auf Noten, sondern Griffbilder auf Gitarre, Klavier, etc.) und verlieren dabei gerne die Verbindung zur ursprünglichen Klangvorstellung oder bemühen diese gar nicht erst.

Ich lasse erst nur singen, dann getrennt kurze Phrasen singen und nachspielen und zum Schluss beides simultan tun. Bilder und Grafiken werden dann wieder mit Klangvorstellungen verknüpft und musikalischer wird die Improvisation dadurch gewiß. Nicht wenige erhebe diese Praxis ja auch zur Kunstform und machen das Mitsingen (was nicht etwa ein Nach- sondern viel mehr ein Vorsingen ist) der gespielten Improvisationen ja auch hörbar und singen diese durch's Mikro mit.
 
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ich glaube, vieles funktioniert bei den beschriebenen musikern über das muskelgedächtnis: sie wissen, wie sich ein bestimmter ton auf ihrem instrument anfühlt, wenn sie ihn spielen und spielen ihn dann beim improvisieren einfach, ohne einen gedanken an den tonnamen oder an die stufe oder funktion des tones zu verschwenden. das funktioniert dann zwar am instrument, aber losgelöst davon nicht.
 
Auch unser Gehörbildungslehrer meinte neulich, auch ein Mensch ohne ein tolles relatives Gehör könne ein super Musiker sein.

Bekommt er Geld von den Studenten? Oder ist er einfach einer, der auf den politisch korrekten Mythos "Jeder Kann Alles" reingefallen ist? Oder ist er einfach nur ein sehr höflicher Mensch, der anderen nicht die Träume zerstören will?

Sarkasmus-Mode ausgeschaltet: Das ist in etwas so, als ob Du fragen würdest, ob ein Blinder malen oder ob ein Mensch ohne Beine Marathon laufen kann.
 
Auch unser Gehörbildungslehrer meinte neulich, auch ein Mensch ohne ein tolles relatives Gehör könne ein super Musiker sein.
Für diese steile These würde ich für einen eigenen Eindruck vom Dozenten gerne ein paar Beispiele solcher "Super-Musiker" genannt bekommen.

Meine Erfahrung sowohl mit eigenen Begrenzungen wie auch mit Hobbykollegen ist die, dass das musikalische Hören sowohl potentiell wie trainiert das Schlüsselkriterium für die Qualität des eigenen Musizierens ist, ansonsten wird das wie "Malen nach Zahlen" - "richtige Töne" machen noch lange keine richtige Musik.

Gruß Claus
 
Mod-Anmerkung: Komplettzitat gelöscht. Bitte sinnvoll zitieren. /klaus111

Agree 100 %!

Kleine frage (nicht ironisch, etc.): wie verstehst Du "potentiell" und "trainiert" in diesem Kontext?
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Mit potentiell gutem Hören meine ich "ohne Ausbildung und musiktheoretische Kenntniisse".
Man erkennt den m.E. als Teilaspekt der "musikalischen Begabung" vorhandenen Unterschied zwischen Menschen besonders deutlich beim Unterrichten von Anfängern aus nicht musizierenden Haushalten.
Trainert meint dementsprechend das, was sich nach längerfristiger Beschäftigung mit dem Spielen nach Gehör bzw. das Musizieren begleitender Gehörbildung zeigt.
 
Verstehe. Meine Erfahrung zeigt mir übrigens, dass ein wirklich gutes Gehört - vor allem bei Jazzmusikern - das Ergebnis von hartem und langwierigem Training ist. Aber ich kann mich natürlich irren...
 
Aber ich kann mich natürlich irren...
Ich stimme dir da auf jeden Fall aus meiner ganz unwissenschaftlichen Alltagserfahrung zu.

Den von mir implizierten Unterschied zeigt die Umkehrung deines Satzes. ich dnke, nicht jeder wird durch ein "gleich hartes Traning" ein vergleichbar gutes relatives Hören erreichen.
Genauso wenig, wie jeder Flachlandtiroler mit 10-20 Tagen Ski fahren jährlich ein passabler Abfahrer wird. Manche aber schon, wenn ich so unbescheiden "outen" darf. :D
 
Ich selbst hatte z.B. am Anfang ganz große Schwierigkeiten damit, selbst einfache Blueslicks herauszuhören. Heute geht das mittlerweile ganz flott. Nicht ganz so flott gehen jazzige Akkorde á la Kenny Burrell, aber mit etwas Mühe kann ich auch da was produzieren.

Problem für mich war immer, dass Gehörtraining Knochenarbeit ist und eine extrem hohe Frustrationstoleranz erfordert. Aber berichtigt mich bitte, vielleicht liegt es nur an meinem Mangel an Begabung.
 
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Ein Anekdötchen zum guten relativen Hören ohne systematische Ausbildung: ich habe vor vielen Jahren mal einem autodidaktischen Amateurgitarristen zur Shiny-Etüde (aka Shiny Stockings) von Barry Galbraith befragt, die damals etwas über meinen Möglichkeiten auf der Gitarre lag.
Mit den Noten konnte er nichts anfangen, aber nach ein paar Mal Anhören der Plattenaufnahme mit etwas Herumprobieren zwischendurch hatte er das Stück drauf. Ich fiel fast vom Stuhl vor Bewunderung...

Ich selbst hatte z.B. am Anfang ganz große Schwierigkeiten damit, selbst einfache Blueslicks herauszuhören.
Eigene Erfahrungen sind mir da nicht fremd... :redface:
Schön finde ich am "sytematischen Üben" die Wahrnehmung, wie sich das eigene Hören durch das Üben entwickeln lässt. Gerade Jazzmusiker sind da dankbare Studienobjekte. Bei manchen kann man alles Möglche über Arpeggios, Approach Tones und Enclosures lernen, bei anderen den Einsatz von (Moll-)Modes.
 
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Der erste Musiker, der mir etwas die Ohren "geöffnet" hatte, war T Bone Walker. Er verwendete zwar kein komplexes Tonmateriel, aber er konnte mit dem wenigen, was er hatte, unfassbar gut die "Changes" spielen. Noch dazu super Gefühl für den Rhythmus und für Dynamik. es ist kein Zufall, dass er zur Legende wurde!
 
Ich gehöre zu den Leuten, die der Eröffner beschreibt.
Für meine Soli gibt's immer wieder Lob von gestandenen Profis. Aber für die Eignungsprüfung eines Musikstudiengangs müssten
mein Gehört und ich noch eine Menge Schweiß lassen.
Ich denke, dass ich dadurch ein passabler Solist geworden bin, dass ich statt an die Lines im am "Ton" gearbeitet habe.
Ich muss dazu sagen, dass ich E-Gitarre spiele. Ein Instrument wo man ein und den selben Ton auf sehr viele Arten spielen kann.
(Ja ja, das geht mit jedem Instrument ;-) )

Ein Beispiel wo mir diesen Können hilft (und am Anschluß dann ein Nachteil):
Probensituation. Wir jammen einen unser schon fertigen Songs und ich spiele in einem PopSong ein Solo.
Während ich meine Standartlicks runter dudel erinnere ich mich an den letzten Gitarrenunterricht, wo ich Melodisch Moll geübt hatte.
Mir gefiel total der Sound der maj7 über einen MollAkkord. Schön dreckig und spannungsgeladen. So hatte ich mir das gemerkt. Ich hatte zu dem Zeitpunkt während der Probe keinen Klang
im Kopf, wie die maj7 nun klingen würde aber ich wusste, dass ich den Sound mochte.
Also habe ich ein Lick aus der maj7, dem Grundton oder der Quinte probiert. Klang super. Auf den Tönen bin ich geblieben auf habe eben
mit meinem persönlichen Können einiges aus den dreien rausgeholt. Vom Drummer kam direkt ein "YEAH". (Und damit ist der geizig!)

Das ist eben ein Weg mit dem was man hat vernünftige Musik zu machen. Jemand anderes kann die schöneren Linien spielen, ich versuche aus wenigen Tönen was rauszuholen, wobei
ich eben oft nicht weiß, was als nächstes passiert.

Probleme habe ich damit, während einer Improvisation "eine Geschichte zu erzählen".
Ich kann ein cooles Lick, ein cooles Lick da spielen. Ein komplettes Konzept höre ich leider nicht.
Manchmal nervt das total, wenn man eher ausversehen ein Konzept aufbaut.
Eine schöne Tonfolge! Dann eine die genau als Antwort passt! Und dann will man dem ganzen das i-Tüpfelchen aufsetzen ... und hat keine Ahnung
zu welchem Ton man jetzt will. :D

Ich würde zusammenfassen, dass ich "aus dem Arsch" spiele. Musik ist so vielseitig. Da kann sich das, was hinterher zu hören ist aus so vielen Komponenten zusammensetzen.
 

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