Es gab mal einen Pianisten, ich glaube aus Australien, der sich große Sinfonie-Werke ausschließlich über das Hören von Schallplatten angeeignet hat. Beim ersten Auftritt mit einem (weltbekannten) Orchester stellte er dann nach ein paar Tönen erschreckt fest, dass er alles einen Halbton zu hoch gelernt hat. Der Grund: Der Schallplattenspieler lief etwas zu schnell und daher hat er alles schneller und höher einstudiert. Das Konzert war dann beendet.
Außerdem kenne ich einen jungen Mann in meinem Alter, der sich sein gesamtes Repertoire durchs Gehör angeeignet hat. So beeindruckend es auch sein mag, wenn er sich 6- oder 7-stimmige Voicings von alten Aufnahmen rausgehört und nachgespielt hat - neue Stücke sind dann einfach nicht machbar, ohne dass es ihm jemand vorspielt oder zeigt. Desweiteren muss man alles auswendig können oder immer eine Aufnahme bei der Hand haben. Etwas schriftlich festzuhalten oder auf diesem Weg mitgeteilt zu bekommen ist für ihn nicht möglich.
Was ich mit den Beispielen sagen will: Will man musizieren ohne das Notenlesen zu beherrschen ist man außer vom eigenen Gehör auch vom verfügbaren Audio-Material abhängig. Man kann also reproduzieren und auch nur, was tontechnisch vorhanden ist. Im Zusammenspiel mit anderen Musikern, gerade im kreativen Bereich, wird es dann aber schnell schwierig.
Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele wie die Duke Ellington Big Band, von der viele Stücke gar nicht aufgeschrieben wurden, weil man quasi direkt ab Komposition ein paar Mal geprobt hat, bis alles auswendig ging.
Die eigentliche Frage war ja, wie schnell man sich diese Fähigkeit aneignen sollte, oder wie gut man diese ausbilden sollte. Als kompletter Anfänger im Bereich der Musik ist es wohl zwangsläufig so, dass sich das instrumentale Können parallel mit dem Notenlesen entwickelt. Es würde ja auch keinen Sinn machen, fließend komplizierteste Dinge vom Blatt singen zu können, aber die Finger wissen nicht, wohin sie sollen. Gerade beim Klavier sind eine Menge an Noteninformation zu verarbeiten, weil man eben auch in der Vertikalen lesen muss und dann auch noch zwei getrennte Notensysteme zu lesen sind.
Kann man z.B. schon Notenlesen und fängt ein zweites Instrument an, kann man sich hier voll auf die Umsetzung der Noten konzentrieren und macht deshalb auch schnellere Fortschritte.
In deinem Fall, was ja eher Richtung kompletter Neuanfang geht, sofern ich das richtig verstanden habe, würde ich dazu raten, das Spielen und das Lesen auch mal getrennt voneinander zu üben. Ich musste seinerzeit im Unterricht also auch häufig die Noten des Stückes vorlesen. Klappt das Spielen nämlich nicht, kann es entweder daran liegen, dass man den Ton nicht so schnell auf dem Instrument findet, oder dass man gar nicht erst weiß, wo man hin muss. Einzelnes Lesen separiert das Problem (generell sollte man die Dinge immer in Teilprobleme zerlegen und einzeln üben).
Will man z.B. ein neues Stück spielen, dann kommt man nicht sehr weit, wenn man Ton für Ton suchen muss. Lieber kleine Einheiten wählen (halber Takt, drei Töne, wie auch immer), erst lesen und die dann im Ganzen spielen. Schließlich wollen ja auch die Notenwerte untergebracht werden, was nicht klappt, wenn ich immer neu zur Suche ansetzen muss.
Mit Zeit und Übung werden die Dinge dann besser. Stereotype Phrasen hat man dann schon in den Fingern, bevor die Augen zu Ende gelesen haben. Manchmal ist man dann überrascht, warum man den richtigen Ton gespielt hat, obwohl der Kopf noch gar nicht so weit war. Das Phänomen tritt natürlich nur innerhalb bestimmter Stilistiken und Instrument auf. Besonders deutlich ist mir das am Saxophon aufgefallen, weniger am Klavier.
Und glaub mir, irgendwann kann man auch einen vorher unbekannten BeBop-Standard in gutem Tempo vom Blatt spielen (zumindest ohne größere Unfälle) und denkt dabei schon über was ganz anderes nach.
Wie sovieles ist das Notenlesen auch nur eine Frage von Zeit und Übung, mit dem Alter hat das eher wenig zu tun. In seh in den Musikschulen auch vermehrt ältere Menschen um das Renteneintrittsalter herum, die mit der Musik bei Null anfangen. Schließlich soll man ja auch Spaß haben.
Ein schlauer Lehrer hat mal gesagt, dass man sich beim Üben immer die Zeiten nehmen soll, die man braucht. Sich selbst zu hetzen, weil man meint, irgendeine Anspruchshaltung erfüllen zu müssen, bringt meistens genau das Gegenteil.