Ich bitte zu entschuldigen, dass wir hier etwas sehr OT gehen, aber es gibt Aussagen, die möchte ich nicht unkommentiert stehenlassen (hinterher glaubt jemand diesen Quatsch dann auch noch):
WĂ€hrend heutige Orgelspieler sehr schnell und virtuos spielen, so war es damals alles extrem langsam.
Was soll "damals" sein? Wenn du damit die 2. HÀlfte des 19. Jahrhunderts meinst, dann gab es "damals" tatsÀchlich eine Tendenz, "Alte Musik" aufgrund einer falschen Assoziationskette (alte Musik -> alte Leute -> langsamere Bewegungen) langsamer zu spielen, als es in den heute weitaus genauer beachteten historischen Quellen angegeben war. Was die
heutigen Musiker diesbezĂŒglich machen, ist nicht
schneller zu spielen, sondern historisch informiert und somit im Tempo
korrekter (gegebenenfalls also auch
schneller als die romantischen Interpreten) zu spielen.
NB: Die Assoziationskette ist auch deswegen falsch, weil das Schritt-Tempo Àlterer Menschen nicht wesentlich langsamer ist (ca. 100-120 Schritte/min) - was sich Àndert, ist die Schrittweite!
Von der Logik macht es auch Sinn. Wenn die Menschen frĂŒher mit viel GlĂŒck eine Lebenserwartung von 30-38 Jahren hatten, dann war auch keine Zeit neben dem schweren Ăberleben Jahrzehnte ein Instrument zu perfektionieren.
Das ist schlichtweg haarstrĂ€ubender Unfug - nicht zuletzt, weil der Mensch nach dem Prinzip Hoffnung handelt, und weil daher es nicht im Wesen des Menschen liegt, seinen Fertigkeitserwerb an Lebenserwartungsstatistiken auszurichten. Weder der Multi-Instrumentalist Mozart, noch Schubert wussten, dass sie jung sterben wĂŒrden. Welch Verlust fĂŒr die Musik, wenn sie nach Statistik bzw. Vorahnung gehandelt, und daher lieber in bester Leistungsverweigerermanier ihre Zeit allein mit auf Kurzfristigkeit angelegten AktivitĂ€ten verplempert hĂ€tten!
Virtuosen und Komponisten waren damals wie heute im Regelfall sozial abgesicherte Spezialisten, die ihr Leben nicht unter fiedelnden Schweinehirten und vogelfreiem fahrendem Volk verbrachten. Lebenserwartungen frĂŒherer Epochen sind Durchschnittswerte, die v.a. die niederen StĂ€nde betrafen, und die durch deren erhöhtes MortalitĂ€tsrisiko durch Kindersterblichkeit, Kindbettfieber, kriegerische Konflikten und Seuchen statistisch nach unten gedrĂŒckt wurden.
Ein Blick in frĂŒhe Musikerbiografien sollte ausreichen, den signifikanten Unterschied zwischen statistischem Durchschnitt und individuellem, realen Alter zu verdeutlichen:
- Mittelalter: Walther von der Vogelweide (1170-1228 = 58 J.), Guillaume de Marchaut (ca. 1300-1377 = ca 77 J.) Oswald von Wolkenstein (1377-1445 = 68 J.)
- Renaissance: Joh. Ockeghem (ca 1420-1495 =ca. 75 J.), Josquin Des Préz (ca. 1450-1521 = c, 71 J.), Adrian Willaert (ca. 1480-1562 = 82 J.)
- SpĂ€trenaissance und FrĂŒhbarock: Palestrina (ca. 1525-1594 = 69 J.), Orlando di Lasso (1532-1594 = 62 J.), Monteverdi (1567-1643 = 76 J.), H. SchĂŒtz (1585-1672 = 87 J.)
- Barock: Bach (65 J.), HĂ€ndel (74 J.) ...
Und was die angebliche Logik deiner steilen These betrifft: Wenn die Lebenszeit angeblich so knapp war, warum waren dann die meisten Musiker nicht nur Komponisten, sondern hÀufig auch Multi-Instrumentalisten?
Warum sollten sich ĂŒberhaupt Menschen um spezielle Fertigkeiten und perspektivisch langfristiger angelegte Bildung bemĂŒhen? Wenn sie von vorneherein wissen, dass sie mit 30 wie die Eloi in Wells "Zeitmaschine" an die Morlocks verfĂŒttert werden, stellen sie jegliches selbstbestimmtes Handeln und Denken ein. Dem ist aber in der RealitĂ€t (zumindest weitgehend) nicht so. Da hast du also entweder ein echt schrĂ€ges Menschenbild, oder deine Schlussfolgerung ist schlichtweg unĂŒberlegter Stuss.
Ein weiteres Gegenargument: Selbst wenn jemand mit Mitte 30 "nach Statistik" gestorben ist, hatte er mindestens 25 Jahre Zeit, sich an einem Instrument zu perfektionieren. Die professionelle Musikerkarriere begann damals wie heute sehr frĂŒh, und wer nicht mit spĂ€testens 20 Jahren bereits als Virtuose konzertieren konnte, war ohnenhin raus aus dem GeschĂ€ft. Dass eine Karriere damals wie heute auch frĂŒh enden kann, hat in der Lebensplanung nie eine Rolle gespielt, denn jede Epoche hatte nicht nur ihren "27er-Club", sondern immer auch die "Fossilien" vom Schlage eines Horowitz (86 J.).